Was mich in der Krise trägt

Im täglichen Sprachgebrauch verwenden wir den Begriff der Krise immer negativ und so, als würde es sich dabei um eine absolute Ausnahmesituation handeln, die selten vorkommt, im besten Fall gar nicht.

Im Lexikon steht allerdings beim Wort „Krise“ unter anderem Folgendes: Höhepunkt einer gefahrvollen Entwicklung; Weggabelung, an der wir uns entscheiden müssen, welche Abzweigung wir wählen, und im medizinischen Kontext steht da: ein die Genesung einleitender, hoher Fieberschub.

Gerhard Weißgrab
ist Präsident der Österreichischen Buddhistischen Religionsgesellschaft

Krise als Chance

Klingt ja gar nicht so schlecht und was wir aus allen diesen Definitionen auf jeden Fall lernen können ist, dass eine Krise eigentlich etwas Normales darstellt, das immer wieder geschieht und unser Leben ständig begleitet. Natürlich in unterschiedlicher Form und Intensität, wobei die aktuelle Krise sicher sehr dramatisch ist.

Das chinesische Schriftzeichen für Krise beinhaltet auch das Zeichen für „Chance“. Ich glaube, das ist eine sehr wichtige Erkenntnis und wird von uns in diesem Zusammenhang meist nicht so gesehen. Aber nachdem ja der Ausgang einer Krise nicht fix vorgegeben ist, besteht immer auch die Chance, dass nach einer Krise etwas Besseres und Schöneres am Ende steht als am Anfang. Auch hängt das Wort KRISE etymologisch mit KAIROS zusammen, mit Weg-Entscheidung, mit dem günstigen Augenblick, dem oft eine Krise vorausgeht, der eben aus oder in einer Krise entsteht.

Ich möchte aber nicht die Gefahr übersehen, dass es auch anders herum sein kann. Die andauernden Einschränkungen sind sicher für sehr viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen eine sehr große Belastung und auch ein großes Risiko, persönliches Leid zu erfahren und essentielle Verluste zu erleiden. Ich denke, dass zur persönlichen Bewältigung einer Krise auch immer der Blick zu den Mitmenschen gehört. Das Wahrnehmen, wo Hilfe nötig und möglich ist und das entsprechende danach Handeln.

Eigene Unvollkommenheit

Und was trägt mich persönlich in dieser Krise? Da gibt es vieles und nachdem wir derzeit gerade eine Krise besonderen Ausmaßes erleben, schärft sie auch besonders den Blick auf das, was wesentlich ist. Und das, was für mich persönlich wesentlich ist, hat viele Quellen. Es sind nicht nur die Erfahrungen eines doch schon längeren Lebens und die tiefe Beziehung zu mir wichtigen Menschen und der Natur, auch der Dharma, die Lehre des Buddha, ist eine wesentliche Quelle für mich. Lautet doch eine der Definitionen für den Dharma: „Das, was trägt!“

Lebenskunst
Sonntag, 5.4.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Das Kernstück der buddhistischen Lehre besteht für mich in Weisheit und Mitgefühl mit allen fühlenden Wesen und der klaren Erkenntnis, dass sich alles wechselseitig bedingt und dem ständigen Wandel unterworfen ist. In Krisenzeiten kann mich das tragen, weil es mich daher nicht überraschen darf, wenn plötzlich von einem Moment zum anderen alle Gewissheiten aufgehoben sind. Soweit ich es schaffe, meine absolute Verbundenheit mit anderen zu erkennen, wird Mitgefühl zu etwas Selbstverständlichem, aber auch das Wissen um die eigene Unvollkommenheit.

Und es mag vielleicht komisch klingen, aber was mich in Krisen auch trägt, ist dieses Verständnis meiner eigenen Unvollkommenheit, und das Wissen aus der buddhistischen Praxis, dass wir Leiden oft auch annehmen müssen, weil es den Dingen unabdingbar innewohnt. Ich halte solche Einsichten durchaus für bedeutend, sie fördern nämlich die Geduld und Nachsicht mit dem Scheitern an den eigenen Ansprüchen. Das ist und darf aber kein Freibrief für bewusste Nachlässigkeit sein. Gerade die unangenehmen Seiten dieser Krise, zum Beispiel die massive Einschränkung sonst üblicher Geschäftigkeit, bieten große Möglichkeiten für heilsame Veränderungen. Und ich bin fest überzeugt, dass mir die Krise Möglichkeiten eröffnet, die ich sonst niemals gehabt hätte.

Retreat - Rückzug aus dem Alltag

Was ich jetzt erlebe, gleicht einem Retreat, einem Rückzug aus dem Alltag, um sich zum Beispiel auch stärker der Innenschau widmen zu können. Es ist so, als hätte jemand die Notbremse gezogen, vieles ist langsamer geworden, manches überhaupt zum Stillstand gekommen. Wenn ich jetzt den Blick auf meine Umwelt richte, dann kann ich Dinge wahrnehmen, die mir sonst verborgen bleiben, weil sie vorher ganz von der Geschäftigkeit des Alltags verdeckt waren. Viele Ablenkungen des täglichen Lebens sind weg. Es liegt jetzt an mir zu entscheiden, wie ich damit umgehe. Empfinde ich diese neue Situation als Verlust oder kann ich es als ein Geschenk wahrnehmen? Oder sind es vielleicht gar neue Ablenkungen, die mich durch die Krise tragen? Wohl eine Möglichkeit, aber dann darf ich mich nicht getragen fühlen, denn Ablenkung trägt nicht, sie täuscht nur das Normale vor. Von dem, was wirklich trägt, muss nicht abgelenkt werden.

Es geht darum, das Ungewöhnliche als solches auch anzunehmen und Dinge entstehen zu lassen, die sonst genau durch solche Ablenkungen niemals eine Chance hätten, entstehen zu können.

Das Vorwort eines Buches über Zen-Geschichten alter Meister endet mit dem Satz: „Gewissheiten sind verflogen und dahinter eröffnet sich ein befreiendes Lächeln.“ Mögen viele Menschen in der Lage sein, unseren heutigen Zustand auf genau diese Weise zu empfinden!