Das göttliche Marketinggenie

Zum 500. Todestag von Raffael: „Das Bild allein ist eine Welt, eine ganz volle Künstlerwelt und müsste seinen Schöpfer, hätte er auch nichts Anderes als dies gemalt, allein unsterblich machen.“ Das Werk, dem Johann Wolfgang von Goethe mit diesen Zeilen übermenschliche Qualitäten zusprach, war eine Mutter-Kind-Darstellung.

Dass es nicht irgendeine gemalte Mutter war, der Künstler und Schriftsteller über Generationen hinweg eine überirdische Aura zusprachen, versteht sich von selbst: Ein gemalter grüner Vorhang öffnet den Blick auf eine Szenerie, in der die Heilige Mutter Maria mit dem Jesusknaben auf einem Teppich aus Wolken schwebt. Sie hält den Jungen zärtlich im Arm, die Gesichter von Mutter und Kind berühren einander. Begleitet wird die Gottesmutter von der Heiligen Barbara und dem Heiligen Sixtus. Am unteren Rand schließen zwei sich an der Brüstung aufstützende Engel das Geschehen ab. Der Hintergrund wirkt durch eine Mischung aus Engelsköpfen und Wolken buchstäblich himmlisch.

Johanna Schwanberg
ist Direktorin des Dom Museum Wien

Madonnen als Lebensthema

Die 1512 gemalte „Sixtinische Madonna“ des Renaissance-Superstars Raffael erschien den Romantikern im 18. Jahrhundert sowohl das Motiv als auch die illusionistische Darstellungsweise betreffend, so vollkommen, dass sie eine Wunderlegende in Umlauf setzten. Raffael soll das Meisterwerk, das heute in Dresden hängt, erst vollendet haben, nachdem ihm die Mutter Gottes im Traum als himmlische Vision erschienen war.

Überhaupt waren Madonnen Raffaels Lebensthema. Auch wenn er im Laufe seiner kurzen Künstlerkarriere zahlreiche weltliche, mythologische, auch erotische Themen auf die Leinwand pinselte, kehrte er immer wieder zur Darstellung der Gottesmutter mit dem Jesusknaben zurück. Dabei gelang es ihm, die Mutter-Kind-Beziehung in nie zuvor dagewesener Spontanität, Innigkeit und Harmonie darzustellen. Zugleich entwickelte er eine derartige Vielfalt an Varianten, dass keine Madonna der anderen gleicht. Mehr als 20 Museen weltweit sind stolz auf ihre Raffael-Madonnen, ganz abgesehen von den unzähligen Kopien und Reproduktionen in bürgerlichen Wohnungen.

Dass Raffael göttlich sei und einen besonderen Draht zum Himmel habe, davon waren schon seine Zeitgenossen überzeugt. Nicht nur weil sein Name in voller Breite Raffaello Sanzio da Urbino an „santo“, also heilig, erinnert. Sondern auch, weil seine hyperästhetische, harmonische Kunst als Verkörperung des Göttlichen im Diesseits galt. Bei seinem Tod vor 500 Jahren, am 6. April 1520, wurde Raffael beweint wie ein Heiliger. In Arbeit hatte er gerade das großformatige Altargemälde „Die Verklärung Christi“, in dem er Himmlisches und Irdisches gekonnt in einem Werk vereint.

Mythenbildung und Stilisierung

Dass Raffael mit nur 37 Jahren an einem Karfreitag in Rom verstarb, trug zur Mythenbildung und Stilisierung als christusähnliche Gestalt bei. Er wurde anschließend im Pantheon, dem zur Kirche umgeweihten berühmten antiken Bauwerk in Rom, beigesetzt. Eine Ehre, die keinem Künstler vor ihm zuteil geworden war. Woran er starb, ist nicht genau bekannt. Man munkelte von einem geheimnisvollen Fieber, den Folgen einer Geschlechtskrankheit oder der Pest. Ein Umstand, der gerade jetzt, in unseren Tagen, besondere Brisanz bekommen hat, wo die große Jubiläumsausstellung in Rom aufgrund des Coronavirus nach nur wenigen Tagen geschlossen wurde.

Lebenskunst
Sonntag, 5.4.2020, 7.05 Uhr, Ö1

So sehr Raffael als Schöpfer der berühmten Stanzen im Vatikan über Jahrhunderte vergöttert wurde, so sehr geriet er seit der Moderne als Meister des Schönen in die Kritik. Dazu trug auch die massenmediale Reproduktion seiner Motive bei - etwa der legendären pausbäckigen Engelchen der „Sixtinischen Madonna“ auf Tassen und Weihnachtskerzen. Zu glatt, zu harmonisch, zu perfekt sei seine Kunst, so der Tenor. Im Mittelpunkt stand nun nicht mehr die Schönheit, sondern das Anliegen der Kunst, den Tiefen der Seele, den Abgründen und Grausamkeiten des menschlichen Daseins auf den Grund zu gehen. Im Zuge eines solchen Kunstwollens hatte Raffael nichts verloren.

Heute hat sich das Bild längst wieder gewandelt. Gerade aus dem Blickwinkel der Gegenwart und der übermächtigen Präsenz von Bildern in den sozialen Netzwerken wirkt Raffaels Gesamtpersönlichkeit ausgesprochen zeitgemäß. Der in Urbino geborene Senkrechtstarter und Günstling zweier großer Päpste war nicht nur einer der innovativsten Maler der Kunstgeschichte, der Sakrales und Profanes mühelos miteinander verbinden konnte.

Modernes Medium Kupferstich

Raffael war auch einer der modernsten Künstler, was den vielfältigen Umgang mit Medien und Bildern betrifft. So reichte es Raffael nicht, für die geistliche wie bürgerliche Elite Italiens Altäre, Wandgemälde und Tapisserien zu verwirklichen. Vielmehr suchte er nach neuen medialen Möglichkeiten, um seine Bildideen unters Volk zu bringen und europaweit zu verbreiten. Dies gelang ihm vor allem durch die relativ neue Technik des Kupferstichs. Gemeinsam mit dem Kupferstecher Marcantonio Raimondi vermarktete er seine populärsten religiösen, antiken oder erotischen Sujets in Form von Druckgrafiken und machte sie allgegenwärtig als eine Art Instagramer der frühen Neuzeit.

Als Kunstwissenschaftlerin fasziniert mich, dass es Raffael gelang, eine Welt der Bilder zu erschaffen, die über Jahrhunderte hinweg die europäische Kulturgeschichte geprägt hat. Die größten Dichter, Schriftsteller und Philosophen haben sich seit 500 Jahren an seiner Kunst abgearbeitet. Spannend finde ich auch, dass Raffael Bildsujets geschaffen hat, die bis heute unser kollektives Gedächtnis prägen und nach wie vor in Alltagsgegenständen ihren Niederschlag finden.

Persönlich berührt mich, dass Raffael mit seinen Bildern den Blick auf die Innigkeit lenkt. Auf die kleinen zwischenmenschlichen Gesten, etwa auf dem Bild „Madonna mit Kind und Buch“. Hier zieht das Jesuskind die Hand seiner nachdenklichen Mutter liebevoll zu sich. Der Blickwechsel zwischen den beiden drückt aus, dass sie um das bevorstehende Schicksal und den kommenden Leidensweg Bescheid wissen. Gemildert wird die traurige Vorahnung durch das, was im Moment stattfindet: Nämlich Zuneigung und zärtlicher Körperkontakt. Etwas, das in herausfordernden Zeiten wie diesen, wo wir einander noch dazu möglichst wenig physisch berühren sollen, besonders wertvoll erscheint.