Der gläubigste Ketzer

Zum 50. Todestag von Paul Celan. Paul Celans Verschwinden wurde erst entdeckt, als sich die Post unter seiner Tür gestapelt hatte.

In der Wohnung fand man – ordentlich aufgereiht – Brieftasche, Ausweise, Geld und Uhr – daneben die aufgeschlagene Hölderlin-Biografie, in der Celan auf Seite 464 ein Zitat von Clemens Brentano unterstrichen hat, wo es heißt: „Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.“

Hubert Gaisbauer
ist Kulturpublizist

Eine letzte Reise

Ende März 1970 hatte ihn eine letzte Reise zu Lesungen nach Stuttgart und Freiburg im Breisgau geführt. Bei der Feier zu Hölderlins 200. Geburtstag las er aus dem eben fertiggestellten Lyrikband „Lichtzwang“. Angeblich schüttelten Zuhörer den Kopf und „sperrten sich gegen den Mann da oben und gegen sein Wort.“ Am Dienstag nach Ostern reiste Paul Celan zurück nach Paris, „ins kalte Paris“, wo er jetzt allein lebte, getrennt von seiner Familie, seiner Frau Gisele und seinem Sohn Eric.

Der gebürtige Bukowiner Paul Antschel aus Czernowitz kommt im Spätherbst 1947 nach einem wochenlangen Fußmarsch aus Rumänien in Wien an und bleibt Winter und Frühling. Er ändert seinen Namen in Celan und geht nach Paris, wo er schließlich einen Lebensplatz findet – aber keine Heimat. Er, der Vielsprachige, der Rumäne, der Poete Autrichien, also der österreichische Dichter, wie auf dem Pariser Vorstadt-Friedhof sein Grab bezeichnet wird.

Eine Freundin aus Jugendtagen in Czernowitz und nahe Bezugsperson während der letzten Lebenszeit erzählte: „Paul hatte einen zweiten – hebräischen – Vornamen, nämlich Pessach, und es war gerade am ersten Pessach-Abend, als Paul verschwand, um sich in der Seine zu ertränken.“

Celan verstehen lernen

Beladen war er mit der „Schuld des Davongekommenen“, sagt man von ihm. Er hat „das was war“, wie er zu sagen pflegte und das Jüdische, dem dies geschah, ein schwieriges Leben lang in und mit sich getragen. Mit dem Schmerz über den Tod der deportierten Eltern ist das Jüdische in seine Dichtung eingezogen. Celans Gedichte sind schwer verständlich. Gewiss. Bereits 1949 verrät ein Aphorismus sein Lebensgefühl: „Beuge dich vor der Übermacht, aber sprich als Gefangener eine unverständliche Sprache.“

Lebenskunst
Sonntag, 19.4.2020 7.05 Uhr, Ö1

Was tun, um Celan dennoch verstehen zu lernen? „Lesen“, empfahl er selbst, sooft er danach gefragt wurde, „immer wieder lesen!“ Und dabei erkennen, wie sehr Celans Gedichte unserer Zeit angehören. Erkennen, dass das, was an ihnen tiefinnerst schmerzt, nur allzu rasch wieder „von morgen“ sein könnte. Celan lesen heißt, auf das reimlose Wort Mensch einen Reim suchen. Er verwendete nie die Worte „Shoa“ oder „Holocaust“, er sprach nur „von dem, was war“. Und das Attribut „Dichter der Todesfuge“ konnte er nie abschütteln, ja er forderte sogar, dieses „lesebuchreif-gedroschene“ Gedicht müsse aus dem inflationären Vertrieb genommen werden. Dennoch bleibt die „Todesfuge“ sein bekanntestes Gedicht und die Widerlegung von Adornos Feststellung, „nach Auschwitz“ Gedichte zu schreiben wäre „barbarisch“.

„Abgrundtiefe Gläubigkeit ohne Glauben“

Paul Celan wurde eine „abgrundtiefe Gläubigkeit ohne Glauben“ zugesprochen, also religiöses Erleben und persönliche Antwort außerhalb verfasster Religion. Man nannte ihn auch den „gläubigsten Ketzer.“ Fast jede Zeile in seinen Gedichten redet zu einem Du, zu sich selber, zu einer Geliebten; oft verfließt dieses Du mit der Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“, hinter dem Celan den Namen Gottes ahnen lässt. Theologia negativa sagt man dazu, wenn Celan in einem Gedicht die merkwürdigste Litanei anstimmt: „O einer, o keiner, o niemand, o du…“

Gern hat sich die christliche Theologie – wenn auch in bester Absicht – seiner bemächtigt. Einige der bekanntesten Gedichte wie „Psalm“, „Mandorla“, „Tenebrae“ werden oft allzu eindeutig in die Nähe christlicher Mystik gerückt – und damit missverstanden. Paul Celan ist und bleibt jüdisch. Die letzte Gedichtzeile, die er schrieb, lautet „am Sabbath“ –

„Wie heilige Texte werden Celans faszinierend dunkle Gesänge rezitiert und gedeutet,“ schreibt der Spiegel bereits vor 25 Jahren, und: „wie Reliquien werden in Marbach und Paris die schriftlichen Zeugnisse des Schmerzensmanns gehütet.“ Ursachen und Folgen tiefster Verletzungen und Verstörungen wurden inzwischen schonungslos ans grelle Licht geholt, die schwere psychische Erkrankung, die wiederholten Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, die Elektroschocks, die Selbstmordversuche, die Gewaltattacken auf seine Frau.

„ichten“

Immer wieder hat Paul Celan Martin Buber gelesen, einmal, in den Legenden des Baalschem Tov hat er folgende Zeilen doppelt und dreifach mit Bleistift markiert: „Das Wort ist ein Abgrund, durch den der Redende schreitet. Man soll die Worte sprechen, als seien die Himmel geöffnet in ihnen. Und als wäre es nicht so, dass du das Wort in deinen Mund nimmst, sondern als gingest du ein in das Wort.“

Am 12. April, eine Woche vor seinem Tod, zitiert Celan in einem Brief aus dem Tagebuch von Franz Kafka folgenden Satz: „Glück nur, falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann.“

Jetzt doch ein Gedicht, es heißt „Einmal“. Darin kommt das Verb ichten vor, in der vorletzten Zeile. Es ist schwer zu deuten. Ich denke, es ist das Gegenwort zu vernichtet.

Einmal
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich.
Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.
Licht war. Rettung.