Bibelessay zu Apostelgeschichte 2,1-11

Aus allen Regionen der damals bekannten Welt strömen sie nach Jerusalem. Menschen verschiedenster kultureller und religiöser Traditionen versammeln sich an einem Ort. Multiethnisch und multireligiös ist die Gemeinschaft, die da zum Geburtstag der Kirche zusammenkommt. Wie das Coronavirus hat sich die Botschaft des Evangeliums über die Welt verbreitet.

Aber die Kraft, die 50 Tage nach Ostern Menschen aus allen Teilen der Welt versammelt, hat eine völlig andere Qualität als jenes Virus, das heute die ganze Welt in Unordnung bringt. Anders als das Virus, das uns trennt und zwingt, voneinander Abstand zu halten, versammelt und verbindet diese Kraft Menschen miteinander, die einander sonst nicht kennen oder gar verstehen. Während das Virus ein lebloses Partikel aus Nukleinsäuren und Proteinen ist, das zur Vermehrung lebendige Wirtszellen zerstören muss, macht diese Kraft lebendig und feurig. Sie macht keine Angst, sondern lässt aufatmen.

Regina Polak
ist Theologin und Religionssoziologin

„Atem des Heiligen“

Diese Kraft, die verbindet, belebt und befreit, nennen Jüdinnen und Juden „Atem des Heiligen“, „heiligen Wind“, „Atem“ oder eben „Kraft Gottes“, Christinnen und Christen nennen sie Heiligen Geist, die den Menschen zugewandte, irdisch erfahrbare Seite jenes Gottes, von dem in der Bibel erzählt wird.

Wenn ich dann sehe, wie die Bekämpfung des Coronavirus dieser Tage so viel an sozialem, kulturellem, ökonomischem Leben zu zerstören droht, frage ich mich: Behandeln wir dieses Virus wie eine Art Gegen-Gott? Geben wir ihm nicht zu viel Macht über unser Leben? Sind die Maßnahmen zu seiner notwendigen Bekämpfung verhältnismäßig zu dem, was sie auch beschädigen? Hier wird noch viel nachgedacht und für weitere Krisen nachjustiert werden müssen. Für das heurige Pfingstfest stelle ich mir die Frage, wie ich inmitten der Beschränkungen Pfingsten feiern kann? Wie kann ich die Kraft des Heiligen Geistes erfahren?

Stärker als jedes Virus

Dazu wechsle ich die Perspektive. Der Heilige Geist lässt mich als Christin die Wirklichkeit anders wahrnehmen. Dann sehe ich, dass er schon längst wirkt: Wenn Menschen einander Nachbarschaftshilfe leisten; wenn in den Kirchen und in der Zivilgesellschaft jede Menge Ideen sprießen, wie man die schwierige Zeit meistern kann; wenn Menschen fragen, was man aus der Krise lernen kann; wenn Menschen einander beistehen – durch Hilfe bei der Suche nach einer neuen Arbeit, in der Einsamkeit durch Telefonate, durch neue Formen von Gebet und Feier.

Lebenskunst
Sonntag, 31.5.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Vielleicht muss das Brausen des Heiligen Geistes gar nicht so spektakulär sein, wie in der Bibel beschrieben. Vielleicht gleicht es in diesen Tagen eher jenen Strömungen in Kirche und Gesellschaft, die Menschen innehalten lassen, über den Sinn des Lebens nachzudenken, mutige Zukunftsbilder zu entwerfen oder sich für jene einzusetzen, die von der Krise am meisten betroffen sind, die Arbeitslosen, Armen, oder Geflüchteten. Überall dort werden Samen gesät, aus denen so etwas wie ein Himmel auf Erden, ein Reich Gottes; aus denen auch Kirche neu wachsen kann.

Vielleicht bietet das heurige Pfingstfest die Gelegenheit, innezuhalten und sich in Meditation oder Gebet, in einer Art „Hauskirche“ der Gegenwart des Heiligen Geistes ganz bewusst zu vergewissern. Die Distanz, zu der wir derzeit verpflichtet sind, kann so für das Wirken des Heiligen Geistes in meinem Leben und in der Welt sensibilisieren. Ich bin überzeugt, dass dieser Geist stärker ist als jedes Virus.