Bibelessay zu Deuteronomium 8,2-3.14-16a

Zeiten wie jetzt die Covid-19-Zeit führen eine Dynamik zum Rückzug mit sich, zum Rückzug auf vertraute Räume, auf Wohnung, auf Haus - möglicherweise erweitert um einen Balkon oder sogar einen Garten. Dort endet dann vielleicht der Blick.

Dieser Dynamik des Rückzugs stehen Erzählungen entgegen wie dieser Text aus dem Buch Deuteronomium, dem 5. Buch Mose. Der Text weitet den Blick durch einen Rückblick. Dabei geht es ihm nicht um eine Reminiszenz an eine gute alte Zeit, auch nicht um eine nostalgische Verklärung. Der Rückblick steht im Dienst des Lernens. In keinem Buch der Bibel kommt das Wort Lernen so oft vor, wie in diesem Buch. Das Volk Israel soll ein Volk von Lernenden werden.

Martin Jäggle
ist römisch-katholischer Theologe und Professor für Religionspädagogik

Lernen aus Erfahrung

Um das zu erreichen, fordert im Buch Deuteronomium Mose das Volk Israel auf, sich zu erinnern an seine grundlegenden Erfahrungen: Wie sein Gott es herausgeführt hat aus Ägypten, aus dem Sklavenhaus, an den Bund mit seinem Gott am Berg Sinai, an die Gabe der Zehn Gebote, an die Zeit der Wüstenwanderung, aber auch an die zahlreichen Konflikte. Diese Erinnerungen sollen als kulturelles Gedächtnis für alle späteren Generationen bewahrt werden.

„Du sollst an den ganzen Weg denken“, war zu hören, „den der Herr, dein Gott, dich während dieser vierzig Jahre durch die Wüste geführt hat.“ Wer sich im Erinnern von Einzelheiten verliert, vielleicht nur an alle Not denkt, wird das Ganze nicht erkennen. Dabei hat das Erinnern ein Ziel: Die damals gemachten Erfahrungen dienen dem Lernen, dem Lernen aus Erfahrung. Wer aus Erfahrung lernt, kann das Leben neu ausrichten und die Gegenwart heilvoll gestalten.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Der Text legt den Blick auf die Zeit der Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste zum Gelobten Land. Für mich ist die Wüste das stärkste Bild für Mangel, besonders für Mangel an Nahrung. In der Wüste, so wird erzählt, konnten sich die Israeliten in für sie wunderbarer Weise von Manna ernähren, das sie auch Himmelsbrot nannten. Es sicherte ihnen das Überleben, für sie war es ein Gottesgeschenk.

Lebenskunst
Donnerstag, 11.6.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Zum Leben gehört aber mehr als nur das nackte Überleben, mehr als das Manna allein. Die Staatsekretärin für Kunst und Kultur, Andrea Mayer, sagte im Zusammenhang mit den Einschränkungen der Covid-19-Zeit, die die Kulturschaffenden besonders hart getroffen haben, „Kunst und Kultur machen uns zum Menschen.“ Was sie ganz säkular beschreibt, lässt mich daran denken, was die Bibel auf ihre Art formuliert: „Gott wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht.“ Dieses Erinnern führt zu Dankbarkeit, wieviel man verdankt und nicht selbst machen konnte.

Wie sehr das Anliegen des Buches Deuteronomium erfolgreich war, das Volk Israel solle ein Volk von Lernenden werden, zeigt ein Beispiel: In Wien gibt es einen Platz namens „Schulhof“. Er hat seinen Namen von der Synagoge, die im jüdischen Alltag „die Schul“ genannt wird. Das jüdische Bethaus ist eben auch ein Haus des Lernens, des lebenslangen Lernens. Da frage ich mich: Warum heißt eine Kirche eigentlich nicht „Schul“?