Bibelessay zu 2 Kön 4,8-11.14-16a

Sommerzeit ist Reisezeit; heuer – Corona-bedingt – wohl ziemlich gehemmt, mit harten Konsequenzen für die Tourismusindustrie. – Solche Krisen könnten freilich auch Anlass geben, manches aus dem früheren Gleichgewicht Geratene einmal kritisch zu reflektieren.

Die biblische Erzählung vom Propheten Elischa und seiner vornehmen Gastgeberin in Schunem legt es jedenfalls nahe, über Gastfreundschaft und die Beziehung zwischen Gast und Gastgeber nachzudenken. Bei allem technischen Fortschritt und professionellen Service, die das Reisen heute für große Massen leicht, komfortabel, erschwinglich und zeitsparend machen, hat die moderne Reiseindustrie vielerorts leider zum weitgehenden Verlust echter, ursprünglicher Gastfreundschaft geführt. Niemandem ist daraus ein direkter Vorwurf zu machen, am allerwenigsten den einheimischen Gastgebern an den massenhaft gebuchten Urlaubsdestinationen.

Markus Schlagnitweit
ist katholischer Theologe, Priester und Sozialethiker

Von Gastrecht und Gastfreundschaft

Es geht hier gar nicht anders, als die Beziehung zwischen Gästen und Gastgebern ordentlich, also auch ökonomisch zu regeln; das archaische Gastrecht bildet dafür keinen ausreichenden Rahmen mehr. Gast und Gastgeber sind in der modernen Reisekultur deshalb v.a. zu Geschäftspartnern geworden und Gastfreundschaft häufig zum touristischen Marketing-Sujet. Mit Gastfreundschaft im tieferen Sinn hat die geschäftstüchtige Freundlichkeit allzeit gut gelaunter und die zahlenden Gäste verwöhnender Tourismus-Dienstleister allerdings wenig zu tun. Denn echte Gastfreundschaft meint mehr als eine bloße Höflichkeit Gästen gegenüber:

In vielen Kulturen galt die Tugend der Gastfreundschaft und das entsprechende Gastrecht ursprünglich als heilig – heilig im Sinne der Unantastbarkeit, der absoluten Geltung und Verpflichtung. Insbesondere im biblischen Kulturkreis erhält die Gastfreundschaft aber eine Dimension, die noch weit über diese moralische Qualität als heilige Tugend hinausgeht – und zwar eine in ihrem Kern tief religiöse Dimension: Im gläubigen Judentum etwa ist die Praxis der Gastfreundschaft zugleich Erinnerung an jene frühe Zeit, in der das Gottesvolk selbst fremd war in einem fremden Land; der Akt der Beherbergung von Fremden wird so gleichsam zur dankbar-tätigen Antwort darauf, dass Gott-JHWH selbst Sein Volk aus dem Fremdsein befreit und ihm Heimat gegeben hat.

Lebenskunst
Sonntag, 28.6.2020, 7.05 Uhr, Ö1

– Zugleich ist das Gastrecht aber auch Erinnerung daran, dass JHWH selbst ein heimatloser, nicht in Tempeln ansässiger Gott ist. Der Gott der Bibel hat keine feste Adresse; Er bleibt seinem Wesen nach immer auch ein Anderer, ein Fremder. Im Fremden begegnet dem Gastgeber also eine Spur Gottes. Das streicht auch diese Lesung hervor: Die vornehme Frau aus Schunem beherbergt Elischa, weil sie in ihm einen „heiligen Gottesmann“ erkennt.

Erfahrungsort von Gnade

Die Pflege der Gastfreundschaft ist im biblischen Kulturkreis also ein heiliges Ritual, in dem der Gastgeber sich der eigenen Volksgeschichte erinnert, seiner eigenen ursprünglichen Fremdheit und seiner Befreiung davon durch Gott. Und zugleich ist der Gast selbst Sinnbild für einen niemals sesshaften Gott. Ja, mehr noch: „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“, sagt Jesus von Nazareth einmal im Evangelium. Im Gast ist also Gott selbst gegenwärtig. Wer einen Fremden aufnimmt, nimmt Gott auf. – Darin besteht die Heiligkeit der Gastfreundschaft. Sie ist nicht nur moralische Tugend, in der sich Nächstenliebe erweist; sie ist heilige Handlung, in welcher für gläubige Menschen Gott selbst erfahrbar und gegenwärtig wird. Unnötig zu betonen, dass diese Heiligkeit an den Grenzen Europas derzeit auf das Schamloseste verletzt wird.

Freilich bleibt die zuvor gehörte biblische Erzählung nicht an dieser Stelle stehen: Sie schließt mit einer Verheißung für die großzügige Gastgeberin, die sie selbst kaum mehr zu erhoffen wagte. Vielleicht kann das eine Ermutigung sein, dem Fremden, dem Gast nie nur dienstfertig zu begegnen, sondern auch mit Vertrauen. Auf dass beide Seiten – Gast und Gastgeber – die Gastfreundschaft als das erfahren können, was sie heilig macht: als Ort unverhoffter Wohltat oder – in der Sprache der Religion – als Erfahrungsort von Gnade!