Bibelessay zu Matthäus 10,26-33

Aktueller könnte die Kurzbotschaft nicht sein, die an diesem Sonntag im Evangelium der katholischen Gottesdienste verkündet wird.

Fürchtet euch nicht vor den Menschen, nicht vor denen, die euren Leib bedrohen, euer Leben beschneiden, eure Hoffnungen stehlen und eure Zukunft verschließen. Fürchtet euch nicht in euren Widersprüchen von Dunkelheit und Licht, von Zuversicht und Verzweiflung, von Leben und Tod. Fürchte dich nicht in deiner Begrenztheit und Hilflosigkeit, in der Einsamkeit und deiner scheinbaren Ausweglosigkeit, in deiner Lebenssituation auf der Suche nach Arbeit und Sinn.

Pater Karl Schauer
ist Bischofsvikar der Diözese Eisenstadt

„Fürchtet euch nicht!“

Der Text sagt mir, dass Nähe wichtiger ist als Distanz, dass Umarmung heilen kann und nicht krank macht, dass Masken fallen müssen, damit die Sprache unserer Seele zur Geltung kommen kann, dass der Mensch viel mehr ist als ein möglicher Risikofaktor, wie manche Menschengruppen in der Corona-Krise immer wieder genannt werden.

„Fürchte dich nicht!“ - Diese Ermutigung ist für mich in den vergangenen Wochen und Monaten noch greifbarer geworden. Es ist nicht irgendein Wort, kein frommes Geschwätz, keine billige Vertröstung, sondern die bleibende Zusage des Gottes der Bibel an alle, die an ihn glauben von Anfang an und hoffentlich auch bis zum Ende, von seinem schöpferischen Tun bis zur Vollendung dieser Welt, die dem Menschen oft so armselig und auch so komplex erscheint.

Ob mein Leben in den vergangenen Wochen anders geworden ist? Ich weiß es noch nicht und werde es vielleicht nie ganz wissen. Angst habe ich nur selten gehabt, aber umso mehr fürchte ich Menschen, die alles wissen, alles erklären und analysieren können, die die Zukunft entwerfen, als hätte sie bereits gestern stattgefunden.

Aufmerksamer für Gott

Eines bin ich vielleicht geworden, aufmerksamer für Gott und den Menschen, hellhöriger für die leisen Stimmen in dieser Welt, dankbarer für die kleinen Geschenke in der Natur, in der Begegnung mit den Menschen, im gelesenen Wort und im Schweigen der offenen Kirchen.

Lebenskunst
Sonntag, 21.6.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Ich habe aber auch ihm, den ich Gott nenne, viele Fragen, oft die uralten Fragen der Menschen gestellt, habe meine Zweifel nicht versteckt und habe ihm nur wenig erspart. Und manchmal konnte ich sogar zugeben, dass ich das Eckige, Kantige, Fragwürdige, Zweifelhafte meines Glaubens manchmal schon rundgeschliffen, Gott in eine Schachtel gepresst hatte. „So ist er und nicht anders“ - das kann ich heute nicht mehr sagen. Meine Not mit ihm, meine Hoffnung auf ihn, meine Zweifel an ihm sind letztlich immer nur ein kleiner Ausschnitt meines Lebens, er aber bleibt das unerschöpfliche Geheimnis, vielleicht sogar das Abenteuer meines Lebens.

Mehr wert als alles andere

„Fürchte dich nicht!“ - das ist für mich keine fromme Beruhigungspille, die mich gleichgültig macht, denn Leben ist nie banal, nie oberflächlich, nie nur konsumorientiert. Ich bin überzeugt, die Koalition der Nachdenklichen ist in letzter Zeit viel größer geworden, der Lockdown hat den Kreislauf permanenter Beschleunigung in meinen Lebensentwürfen unterbrochen. Vieles durfte im Leben und im Alltag wieder ankommen, was bereits ausgesperrt war.

„Fürchte dich nicht!" möchte ich allen sagen, die dem Zueinander von Generationen bereits eine Absage erteilt haben, die sich mit der Wirklichkeit der Arbeitslosigkeit abgefunden und unter die ökonomische und ökologische Zukunft einen Schlussstrich gezogen haben, die dem Zusammenleben von Kulturen und Religionen jede Chance verweigern, die der Kleinstaaterei wieder zu neuen Grenzen verhelfen, die der Kirche die erste Aufgabe nicht mehr zutrauen, nämlich die Frohe Botschaft weiterzusagen, dass es Orte gibt, an denen Menschen dem Heiligen begegnen können: bei den Menschen, den Armen, in der Fragwürdigkeit dieser Welt und bei den Gottesdiensten. Vielleicht könnte man unserer Welt einmal vorwerfen, wir hätten vergessen, dass wir Gott vergessen haben. Allerdings, daran zweifle ich, denn im zuvor gehörten Textabschnitt klingt, das was Jesus von Nazareth sagt, wie eine Ermutigung an alle Menschen: „Ihr seid viel mehr wert als alles andere!“