Bibelessay zu Römer 12,17-21

Im Jahr 56 nach Christus hält sich der Apostel Paulus in Korinth auf. Dort schreibt er den umfangreichsten seiner Briefe - den an die Gemeinde in Rom.

Paulus hat diese Gemeinde nicht gegründet, er hat sie bisher auch noch nicht besucht, was er jedoch – so sagt er am Ende des Römerbriefes – gerne in naher Zukunft nachholen möchte. Ganz fremd ist ihm die Gemeinde doch nicht; er hat einige ihrer Mitglieder auf seinen bisherigen Reisen durch Griechenland und Kleinasien kennengelernt.

Jutta Henner
ist Leiterin der Österreichischen Bibelgesellschaft

Das Böse mit Gutem überwinden

Der Brief des Paulus aus Tarsus an die Gemeinde in Rom zeichnet sich auch durch die sorgfältige und ausführliche theologische Argumentation aus. Nicht umsonst gilt der Römerbrief als die „Visitenkarte“ oder das „theologische Testament“ des Völkerapostels. Der Titel „Völkerapostel“ rührt daher, dass Paulus die Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Messias, dem Christus, Jesus aus Nazareth, in die Welt getragen hat.

Man würde dem theologisch und rhetorisch geschulten Apostel jedoch unrecht tun, würde man im Römerbrief nur theologische Höhenflüge erwarten. Ganz im Gegenteil. Im dritten Teil seines Briefes wird er sehr praktisch. Er fragt danach, wie Christinnen und Christen aus der Freiheit heraus, die ihnen der Gott, von dem die Bibel erzählt, geschenkt hat, verantwortet ihren Alltag gestalten können. Und zwar so, dass das gelebte Leben auch andere etwas davon ahnen lässt, dass Christinnen und Christen in Christus etwas geschenkt worden ist, das ihr Leben prägt, dass eigentlich das ganze Leben ein Gottesdienst ist, in dem die Liebe bestimmend ist.

Neue Wege des menschlichen Miteinanders

Paulus hat dabei nicht nur das Miteinander der Christinnen und Christen untereinander im Blick, nein, er denkt auch daran, dass Christen zu seiner Zeit eine Minderheit in einer nicht-christlichen Mehrheitsgesellschaft sind. Da bleiben Konflikte im Alltag nicht aus.

Lebenskunst
Sonntag, 5.7.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Die Ratschläge des Apostels fordern nicht mehr und nicht weniger als das Vermeiden von Eskalation, als ein Durchbrechen der unheilvollen Spirale der Gewalt. Im realistischen Wissen darum, dass es einem anderen schwer machen können, zu einem friedlichen, konfliktfreien Miteinander zu kommen, und ohne die Gemeinde in Rom überfordern zu wollen, erinnert Paulus an praktische Hinweise aus der Hebräischen Bibel, dem Alten oder auch Ersten Testament. Ja, bereits dort mahnt Gott, auf Vergeltung zu verzichten und mögliche Rachegedanken ihm, Gott, zu überlassen. Bereits dort findet sich die Mahnung, „Feinden“ Gutes zu tun, ohne Rücksicht auf den bestehenden Konflikt. Gerade durch diese unerwartete Zuwendung kann, so das Bild von den glühenden Kohlen auf dem Haupt, auch die bisher konfliktbeladene Beziehung auf eine neue Ebene gebracht werden. Mit seinem Rat nimmt Paulus auf, was zentrales Element der Verkündigung Jesu war, nicht nur, aber vor allem in seiner Bergpredigt, wo Jesus den Friedenstiftern zusagt, dass sie Kinder Gottes sein werden (Mt 5,9), wo er eindringlich dazu auffordert, seine Feinde zu lieben (Mt 5,43ff).

Dass Paulus diesem Thema nicht nur im Römerbrief Raum gibt, lässt darauf schließen, dass es mit der praktischen Feindesliebe nicht immer funktioniert hat. Aber - so schreibt Paulus an die Gemeinde in Rom: Nicht kluge theologische Gedanken machen die Nachfolge Jesu aus, sondern glaubwürdig gelebter Glaube, der unter anderem das „wie du mir, so ich dir“-Prinzip durchbricht und überraschende neue Wege des menschlichen Miteinanders schafft.