Bibelessay zu 1. Brief der Könige 3,5.7-11

Durch die Jahrhunderte haben Menschen in Kommentaren zu dieser Bibelstelle über König Salomo Lob ausgeschüttet. Nicht um ein langes Leben bittet er, nicht um Reichtum, nicht um den Tod seiner Feinde. „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz“, sagt er, „damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht.“

Mich erinnert Salomos Bitte zunächst an eine andere Bibelstelle. Sagte nicht die Schlange im Paradies zu Eva ähnliche Worte? Sie verführt Eva mit diesem Versprechen: „Ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ Eva wird aus dem Paradies verstoßen, Salomo hingegen wird gelobt – wie passt das zusammen?

Franz Josef Weißenböck
ist katholischer Theologe, Journalist und Autor

Ein hörendes Herz

Ich verstehe es so: Der Mensch wird genau dadurch zum Menschen, dass er zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Er verliert seine den Tieren gegebene Unschuld, die zu dieser Unterscheidung nicht befähigt. Dadurch wird der Mensch zum „Bild“ des Gottes, von dem die Bibel erzählt. Nicht zum Abbild, wie es oft gedeutet wird, sondern zum Standbild, das den Herrschaftsbereich Gottes anzeigt, wie im alten Orient der Herrschaftsbereich der Herrscher durch deren Standbilder markiert wurde. Der Mensch, und zwar jeder Mensch, wird so zum Statthalter, zum Stellvertreter Gottes. Gott ist, wo Menschen sind.

Durch Salomos Bitte werden Eva und die Schlange gewissermaßen rehabilitiert. Die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden – so schwierig das im Einzelfall auch sein kann! – ist – so meine ich – die Wurzel des Göttlichen im Menschen. Diese Fähigkeit der Unterscheidung ist allen Menschen gegeben, nicht nur Herrschern wie Salomo.

Doch zurück zum „hörenden Herz“ – worauf soll es hören, wem soll es zuhören, woran sich orientieren und zuletzt: Wem soll es gehorchen?

Mitten im Menschen

In der platten Welt der Landkarten gibt es vier Hauptrichtungen: Norden, Süden, Osten, Westen. In der dreidimensionalen Welt kommen zwei weitere dazu: Oben und Unten. Die australischen Ureinwohner kannten eine siebte Richtung: Innen. Innen – das ist die Person-Mitte, wo das Herz sitzt, nicht nur körperlich. Mitten im Menschen, in seinem Herzinneren, ist der Sitz Gottes.

Lebenskunst
Sonntag, 26.7.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Man kann das mit „Gewissen“ umschreiben, das in seiner griechischen wie in seiner lateinischen Version einen „Mit-Wisser“ andeutet: Syneidesis und Conscientia. Nicht über uns ist Gott zu finden und zu hören, in einem hohen und fernen Himmel, sondern mitten im menschlichen Herzen. Aber seine Stimme ist nicht laut, alles übertönend, sondern leise, oft kaum vernehmbar. Um sie zu hören, braucht es ein „hörendes Herz“. Und es braucht Stille, Ruhe, Achtsamkeit. Der Mensch muss innehalten, damit er der wichtigsten Dinge innewerden kann.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut“

lässt Antoine de Saint-Exupery seinen kleinen Prinzen sagen. Man kann ergänzen: Man hört nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Ohren unhörbar.

In Zeiten der Corona-Pandemie ist für viele Menschen der Lärm der Zerstreuungen verstummt oder zumindest leiser geworden. Manche mögen in der ungewohnten Stille ihr „hörendes Herz“ entdeckt haben.