Bibelessay zu Johannes 9,1-7

„Die Heilung eines Blindgeborenen“ ist jener Textabschnitt aus der Bibel übertitelt, der am ersten Augustsonntag in evangelischen Kirchen zu hören ist. Julia Schnizlein, evangelische Theologin und Pfarramtskandidatin in der Lutherischen Stadtkirche in Wien, hat ihn sich für ihren LEBENSKUNST-Bibelessay ausgesucht.

Joh 9,1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war.
Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?

Julia Schnizlein ist evangelische Pfarrerin in der
Lutherischen Stadtkirche Wien

Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.

Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.

Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.

Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Wer ist schuld an Amelies frühem Tod?

Vermutlich erinnern Sie sich nicht an Amelie. Amelie ist tot. Sie wurde nur 15 Jahre alt. Sie starb an einer Überdosis Drogen. Als man ihre Leiche fand, lag sie im Regen zwischen einem Haufen Sperrmüll.

Das ist nun schon zwei Jahre her. Die Geschichte der toten Amelie ging damals durch die Medien und mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Vor allem die Art, wie mit diesem Drama umgegangen wurde. Schon bald ging es nur mehr um die Frage: Wer ist schuld an Amelies frühem Tod?

Lebenskunst
Sonntag, 02.8.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Für eine breite Öffentlichkeit war bald klar. „Schuld ist die Mutter.“ Vor allem im Internet wurde mit der Mutter kurzer Prozess gemacht: „Als Mutter muss man merken, wenn die Tochter abrutscht und SOFORT eingreifen. Die Mutter ist schuld an dem Ganzen“, schrieb damals eine Internetnutzerin und erhielt dafür tausende Likes.

„Lieber gar keine Mutter, als diese!“, lautete das Resümee von tausenden weiteren Internetnutzern. Die Schuldige war gefunden und am öffentlichen Pranger hingerichtet worden. Amelies Mutter nahm sich daraufhin das Leben.

Warum ich Ihnen diese traurige Geschichte an einem Sonntagmorgen zumute? Weil sie symptomatisch ist für unser reflexartiges Suchen nach einem Schuldigen. Für das Schuldzuweisen. „Wer ist schuld“ – die Frage brennt uns unter den Nägeln. Nicht nur in der Religion.

Suche nach Schuldigen

Bei Katastrophen, Krankheiten oder persönlichen Tragödien suchen wir immer sofort einen Schuldigen. Das war schon zu Zeiten des Jesus von Nazareth so. In der zuvor gehörten Bibelstelle erfahren wir, wie die Jünger von Jesus beim Anblick des blinden Mannes reagieren. Sie fragen nicht: „Wie können wir diesem Mann helfen“, sondern: „Wer trägt Schuld an seinem Schicksal? Er selbst oder seine Eltern?“

In der damaligen Zeit war es eine übliche Vorstellung, dass eine Erkrankung ein Hinweis darauf war, dass der Kranke in irgendeiner Form gesündigt hatte. Und mit der Frage nach der Schuld halten die Jünger das Schicksal des blinden Mannes auf Abstand. Immer, wenn andere schuld sind, muss ich selbst auch keine Verantwortung für ein Problem übernehmen.

Tatsächlich lebt es sich einfacher, wenn man die Welt klar aufteilen kann in „Schuldig und Unschuldig, Gut und Böse, Schwarz und Weiß“. Darin liegt ja auch das Erfolgsgeheimnis vieler politischer oder religiöser Systeme. Sie geben einfache Antworten, die den Einzelnen davor bewahren, sich selbst mit den komplexen Problemen und den konkreten Menschen beschäftigen zu müssen.

Aber nicht Jesus. Er steigt aus diesem System von Schuld und Sühne aus. Auf die Frage nach dem Schicksal des Blinden sagt er: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.“

Jesus schaut nicht zurück. Er fragt nicht „Warum“, sondern er blickt nach vorne und fragt: „Wozu“, „Was hat Gott mit diesem Menschen vor?“: „Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“, sagt er und heilt den Blinden.

„Was hat Gott mit diesem Menschen vor?“

Jesus braucht keine Schuldzuweisungen. Er wendet seinen Blick vielmehr auf das, was dem konkreten Menschen in seiner konkreten Situation helfen könnte.

Und mit diesem Perspektivenwechsel nimmt Jesus auch seine Jünger und damit alle, die an ihn glauben, in die Pflicht, nach vorne zu schauen und zu handeln, wenn er sagt: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist.“

Mir hat die Geschichte vom Blinden die Augen neu geöffnet. Sie hat mir einen neuen Blick auf die Welt eröffnet. Einen anderen Zugang, der nicht fragt: Warum ist das geschehen? Sondern: Was kann ich tun, damit es anders wird?