Bibelessay zu Apostelgeschichte 6,1-7

„Wir lassen niemanden zurück.“ So ertönten die vollmundigen Versprechungen von Regierungsmitgliedern während des „Lock-down“ im Frühjahr, als sich tausende Menschen Sorgen um ihre Zukunft machten, um ihren Arbeitsplatz, ihre Gesundheit und ihr Einkommen.

Die Realität sah etwas anders aus. Vielen wurde geholfen, andere blieben zurück oder gingen leer aus, besonders jene, die lebenswichtige Dienste verrichteten, quasi an der Front standen und finanziell nicht gerade zu den Wohlhabenden in der Gesellschaft gehören, wie Supermarktkassiererinnen oder Pflegepersonal. „Wir lassen niemanden zurück.“ Wie muss dieses Versprechen in den Ohren rumänischer Pflegerinnen klingen, wenn der Coronabonus an den Index ihres Landes angepasst wird, obwohl sie wie Inländerinnen ihren Beitrag zum Sozialsystem leisten? Und viele von diesen auch noch in prekären sozialen Verhältnissen leben. Gleichzeitig werden Boni für Manager von Unternehmen in Millionenhöhe ausgeschüttet. Wir lassen niemanden zurück, klingt dann eher zynisch und wie ein Hohn.

Thomas Hennefeld
ist Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich

Niemand darf zurückgelassen werden

Was aber Politikerinnen und Politiker versprochen haben, das liegt in der DNA des Christentums, auf das sich manche von ihnen so gerne berufen. Die christliche Religion ist auf Solidarität und Ausgleich ausgerichtet. In den neutestamentlichen Evangelien ist viel zu lesen von Nächstenliebe und gar Selbstlosigkeit, Werte, die in unserer Gesellschaft nicht besonders viel zählen.

Aber schon in den ersten christlichen Gemeinden war nicht alles eitel Wonne, fühlten sich bestimmte Gruppen in der Gemeinde benachteiligt und zurückgelassen. Davon erzählt auch das gegen Ende des ersten Jahrhunderts verfasste Buch der Apostelgeschichte im Neuen Testament.

Lösung Arbeitsteilung

Schon damals gab es Konflikte zwischen – wir würden heute sagen: Einheimischen und Ausländern, Hebräern und Griechen in der Jerusalemer Gemeinde. Die Hebräer waren in diesem Fall die Einheimischen. Es handelte sich dabei um aramäisch sprechende Juden und Jüdinnen, die andere Gruppe waren die Hellenisten, griechisch sprechende Juden, die aus dem Ausland zurückkehrten. In beiden Gruppen gab es einige, die zum Christentum konvertierten und nun in einer Gemeinde zusammenlebten.

Lebenskunst
Sonntag, 6.9.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Eigentlich sollte es innerhalb der christlichen Gemeinschaft keinen Unterschied geben. So hat es der Apostel Paulus gepredigt und geschrieben: „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.“ Auch hier sah die Realität etwas anders aus.

Ein Murren erhob sich unter den Griechen. Sie sahen ihre Witwen diskriminiert. Das Besondere und Vorbildliche in dieser Situation war es, dass die christliche Gemeinde lösungsorientiert war, anstatt gegeneinander zu polemisieren, oder gar die einen gegen die anderen aufzuhetzen. Die Lösung bestand in einer Arbeitsteilung. Die früheren Jünger des Jesus von Nazareth sollten sich ganz darauf konzentrieren, das Wort Gottes zu verkündigen, während aus der Gemeinde sieben Männer gewählt wurden, die die diakonische Tätigkeit übernahmen.

Zwei Seiten einer Medaille

Damit wurde nicht nur ein Konflikt gelöst, es wurde auch eine Organisationsstruktur geschaffen. Jeder hatte seine Aufgabe: Die einen verkündigten das Wort Gottes, die anderen kümmerten sich um die Armen und um das leibliche Wohl der sozial Schwachen. Die eine Tätigkeit war nicht wichtiger als die andere. Beide Aufgaben waren geistlicher Natur. Verkündigung und der Dienst am Nächsten, wurden nicht gegeneinander ausgespielt. Sie ergänzen vielmehr einander. Für beide Aufgaben wurden nicht nur fähige, sondern auch geisterfüllte Menschen ausgewählt. Und so wurde es möglich, dass alle anteilhaben konnten, dass wirklich niemand zurückgeblieben ist oder zurückgelassen wurde.

Nach evangelischem Verständnis stehen aber Wortverkündigung und diakonisch karitativer Einsatz nicht nur gleichberechtigt nebeneinander, sie sind zwei Seiten einer Medaille. Denn christliche Verkündigung bedeutet ja, den Armen das Evangelium zu predigen und das kann ich nur glaubwürdig tun, wenn ich auch für sie sorge, für die, die am Rande stehen, für die, die keine Stimme haben, um für ihr Recht zu streiten, für die, die sich selbst nicht helfen können. Nur so lässt sich diese Parole auch ehrlich umsetzen: Wir lassen niemanden zurück. Niemand soll und darf zurückgelassen werden.