Kompromisse machen

„Man muss im Leben Kompromisse machen“ – Das steht in meinem alten Wörterbuch, dem Wahrig, als Beispiel für das Stichwort Kompromiss. Im Duden online kommt da als erstes „fairer oder fauler Kompromiss“ und dann gleich: „Keine Kompromisse“ – mit Rufzeichen!

Gedanken für den Tag 7.9.2020 zum Nachhören (bis 6.9.2021):

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Mein Wahrig stammt aus dem Jahr 1986, der Duden online ist ganz aktuell. Zwischen beiden scheint mir eine Akzentverschiebung zu liegen in der Beschreibung dessen, was Kompromiss im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet. In den 1980ern ist es die Erkenntnis, dass zum Leben Ausgleich und Zugeständnisse gehören, Verständigung und Übereinkünfte durch beiderseitiges Nachgeben – so lauten im Wörterbuch die Synonyme für den Kompromiss. Im Internet lese ich heute als erstes von seiner Ambivalenz und seiner Ablehnung. Erst an dritter Stelle kommt hier unter den Beispielen die Formulierung: „Einen tragfähigen Kompromiss schließen“.

Veronika Prüller-Jagenteufel
ist theologische Referentin in der Caritas St. Pölten und Seelsorgerin für Demenzkranke

Vorwärts gehen

Vielleicht ist das überinterpretiert, aber mich beschäftigt schon länger die Beobachtung, dass Kompromisse anscheinend immer mehr aus der Mode kommen. Heutzutage muss man sich durchsetzen, die eigenen Interessen durchbringen und zwar möglichst vollständig. Alles andere ist schon eine Niederlage. Die politische Berichterstattung in den meisten Medien zeigt das ebenso wie etwa die Erfahrung, dass private Streitfragen in der Familie oder Nachbarschaft immer öfter vor Gericht landen. Kompromisse bringen anscheinend kein Ansehen. Nur klare Siege zählen.

Dabei steckt in der lateinischen Herkunft des Kompromisses das Wort „promittere“ und dessen Grundbedeutung ist „vorwärts gehen lassen“. Die Vorsilbe „com“ verweist auf etwas Gegenseitiges oder Gemeinsames.

Kom-promisse lassen also beide Verhandlungspartner vorwärts gehen, sind ein gemeinsames Weiterkommen. Ich glaube, davon brauchen wir gerade heute wieder mehr. Es ist Zeit für die Rehabilitierung des Kompromisses.

Musik:

Heinz Holliger/Oboe d’amore und Alfred Brendel/Klavier: „Fantasiestück für Klavier und Oboe d’amore op. 73 Nr. 1 - Zart und mit Ausdruck“ von Robert Schumann
Label: Philips 4168982