Bibelessay zu Jesus Sirach 27,30 – 28,7

Wieder einmal fühle ich mich beim Lesen eines Bibeltextes ertappt. Zornig zu sein, so muss ich gestehen, ist eine mir durchaus bekannte Empfindung. Mitunter fühlt sich dieser Zorn ja auch gut an, weil ich mich dabei so sehr im Recht fühle.

Ich bin zu Recht zornig, weil – die Hausarbeit mal wieder ungleich aufgeteilt ist. Weil die Kinder nach zigfacher Aufforderung ihr Zimmer nicht aufgeräumt haben und ich schmerzhaft auf ein Legoteil trete. Und überhaupt irgendwer mir in einer Weise kommt, die sich maximal unfair anfühlt. Meistens verraucht dieser Zorn schnell. Manchmal grüble ich aber auch eine Weile herum und suche nach Gründen, die meinen Zorn untermauern. Wenn ich lange genug suche, lassen sich diese Gründe auch finden. Ja, wenn es nur dieses eine Mal wäre, dass ich von meinem Gegenüber ungerecht behandelt wurde – aber es ist doch eigentlich immer wieder so, ja überhaupt eigentlich immer! Das kann man ja gar nicht tolerieren. Und schon ist mein Zorn auf einer anderen Ebene angekommen. Er ist nicht mehr allein subjektive Empfindung, sondern abstraktes Urteil. Solche Urteile sind extrem haltbar.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und Germanistin, Universität Kassel

„Übersieh die Fehler“

Und nun steht hier in Jesus Sirach: „Groll und Zorn, und auch diese sind Gräuel. Und ein sündiger Mann hält an diesen fest.“ Getrost kann man diesen Satz auch auf die sündige Frau ausdehnen. Da haben wir es nun. Der Zorn, der sich eben noch als so gut begründet und so wunderbar haltbar erwiesen hat, wird hier in der Bibel als Sünde deklariert. Und zwar nicht der Zorn, in dem man kurzfristig entbrennt, sondern an dem der Mensch festhält. In den er sich verbeißt. Der ihn zu dem vermeintlich gerechten Zorn anleitet, aus dem der Wutbürger entsteht. Dieser Zorn ist mehr als nur kurzer Affekt. Er ist zu einer der längerfristigen Emotionen geworden, die unser Denken und Handeln – oft auch unbewusst – leiten.

Der Text sieht hier sehr genau: Handlungen, die aus Zorn geschehen, haben mit Rache zu tun. Martha Nussbaum, eine der einflussreichsten US-amerikanischen Philosophinnen, bestätigt dies in ihrem Buch „Zorn und Vergebung“, in dem sie den Funktionen und Dysfunktionen von Zorn auf der persönlichen, aber auch politischen Ebene nachgegangen ist. Oft entspringt der Zorn eigener Kränkung. Ich fühle mich herabgesetzt, nicht gewürdigt. Und eben das möchte ich an den anderen zurückgeben. Zorn setzt so eine Spirale in Gang, die Beziehungen zerstört und ohnehin schon beschädigtes Vertrauen weiter erschüttert. Und irgendwann, so formuliert es Jesus Sirach aus gesättigter Lebenserfahrung heraus, hat der Zorn die Beziehungen so verändert, dass er auf mich selbst zurückschlägt. Im Text steht: „(Der Mensch) – ein Wesen aus Fleisch, verharrt im Groll. Wer wird seine Sünden vergeben?“

Lebenskunst
Sonntag, 13.9.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Was wäre dann die Alternative zum Zorn? Vergebung? Der Text scheint dies mit eben diesem Satz nahe zu legen. Diese Lösung – Vergebung statt Zorn – lässt allerdings ein gewisses Unbehagen zurück. Denn einfach zu vergeben – es lässt auch die ungerechten Dinge wie sie sind. Zudem, so argumentiert Martha Nussbaum, kann Vergebung auch noch anders laufen: Unter Umständen vergebe ich nicht einfach so, sondern verlange zunächst etwas. Nämlich dass der andere haarklein seine Fehler eingesteht, seine Schuld bekennt und um Verzeihung bittet. Für meine eigene Kränkung mag das heilsam sein. Unter Umständen beschädige ich aber auch den anderen. Ganz ähnlich wie im Zorn gebe ich in dieser Form der Vergebung die Kränkung einfach zurück. Und wie leben wir danach weiter zusammen?

Vielleicht lacht Gott mit uns

Zorn oder Vergebung – es sind nach Nussbaum eben keine Alternativen, und auch Jesus Sirach baut diese nicht zu solchen auf. Sehen wir noch einmal genauer hin. Ausdrücklich verbindet der Text die Mahnung, nicht zu grollen mit dem Denken an die Gebote. Die Gebote – das ist die ganze Vielzahl von Weisungen und Vorschriften, die im alten Israel das Zusammenleben regeln und deren Grundlage die sedakah, die Gerechtigkeit jenes Gottes ist, von dem die Bibel spricht. Nicht im Zorn zu verharren heißt nach Jesus Sirach damit gleichzeitig, nach Gerechtigkeit zu suchen. Und diese soll eben nicht der Rache oder auch nur dem gegenseitigen Aufrechnen dienen. Im selben Satz empfiehlt der Text, die Fehler des anderen zu übersehen. Die Gerechtigkeit – sie soll mit Großzügigkeit gehandhabt werden. Es ist eben diese Haltung der Großzügigkeit, der Gelassenheit und auch des Humors, die Martha Nussbaum in den jüdischen und christlichen Texten findet und die sie auch für heute anempfiehlt, um mit Konflikten umzugehen.

Jesus Sirach nennt eine Quelle, die ermöglicht, vom Zorn abzulassen: Gottes Großzügigkeit schafft einen Lebensraum, der Menschen ermöglicht, selbst großzügig zu sein. Was macht diese Haltung der Großzügigkeit mit meinem persönlichen Zorn? Je älter ich werde, desto weniger haltbar ist er. Immer öfter tritt ein Lachen an seine Stelle – über die Fehler des anderen und über meine eigenen. Vielleicht, so stelle ich mir vor, lacht Gott manchmal mit uns…