„Das ist unter Johannes XXIII. einmalig gewesen“

Helmut Krätzl spricht im Interview mit religion.ORF.at über seine Arbeit als Schreiber beim II. Vaticanum, die Rolle der Bischöfe beim Konzil und warum Erneuerung heutzutage von unten kommen muss.

Em. Weihbischof Helmut Krätzl

kathbild / Franz Josef Rupprecht

Der emeritierte Weihbischof Helmut Krätzl studierte in Rom, als das II. Vaticanum eröffnet wurde

religion.ORF.at: Sie waren beim Zweiten Vatikanischen Konzil als Zeitzeuge dabei. Wie kam das?

Helmut Krätzl: Ich hab 1960 gemeinsam mit Kardinal König in Jugoslawien einen furchtbaren Autounfall gehabt. Ich konnte nur mit Krücken gehen, und der Kardinal hat zu mir gesagt: Sie gehen jetzt zum Studium nach Rom, das kann man sitzend machen. So habe ich von 1960 bis 1963 in Rom Kirchenrecht studiert. Damals war gerade die Vorbereitungszeit zum Konzil, und in den Priesterkollegien wurden junge Priester für Schreibdienste gesucht. Da haben wir uns gemeldet. Wochenlang haben wir lateinische Stenografie gelernt und am 11. Oktober 1962 konnten wir als Mitarbeiter des Konzils feierlich mit den 2.500 Konzilsvätern vorne einziehen.

Ich habe damals viel von dem mitbekommen, was innerhalb und auch außerhalb der Aula vorgegangen ist. Vor allem auch in der Anima, dem Priesterkolleg, wo ich in Rom gewohnt habe. Dort war auch der greise Kardinal Frings untergebracht. Der war fast blind und hat zwei Begleiter gehabt, den Hubert Luthe, der war dann später Bischof in Essen, und den damals schon sehr berühmten, jungen, sehr fortschrittlichen Theologen Josef Ratzinger. Mit dem hab ich unter einem Dach gewohnt und erlebt, wie er sich über Frings in einer sehr positiven und fortschrittlichen Weise in das Konzil eingemengt hat.

religion.ORF.at Was war das Positive, das Ratzinger damals eingebracht hat?

Krätzl: Ratzinger hat sich vor allem in Hinblick auf die neue Sicht der Kirche eingebracht, aber auch auf die neue Sicht der Bibel und der beiden Offenbarungsquellen, Offenbarung und Tradition. Das waren seine Hauptgebiete.

religion.ORF.at: Wann und wie haben Sie persönlich zum ersten Mal gehört, dass es ein Konzil geben soll?

Krätzl: Der Papst hat schon 1959 das Konzil ausgerufen, noch bevor ich in Rom war. Das war natürlich für uns ungeheuer spannend. Wir haben nur das I. Vaticanum gekannt, das fast 100 Jahre zurücklag, und wir haben nicht gewusst, wie das alles werden wird. Ich glaube übrigens, der Papst hat es auch nicht ganz gewusst.

Es ist damals in Rom die Mär gegangen, das Konzil wird sehr kurz dauern. Die Vorbereitungsarbeiten haben am Anfang die Kurialtheologen gemacht, die unter Pius XII. gearbeitet haben und zum Teil sehr konservativ waren. Man hat gedacht, die Bischöfe werden jetzt aus der ganzen Welt kommen, in Ehrfurcht diese Dokumente lesen, abstimmen und in 14 Tagen ist alles vorbei. Das Konzil hat aber vier Jahre lang gedauert, und die von der Kurie vorgelegten Dokumente sind alle umgearbeitet worden. Die vorher zensurierten, zum Teil auch mit Redeverbot belegten Theologen sind auf einmal zu Wort gekommen. Ich glaube, es war einmalig in der Kirchengeschichte, dass die Bischöfe und die Theologen in einer so positiven Weise miteinander gearbeitet haben.

religion.ORF.at: Die Kurie hat versucht, Einfluss zu nehmen – Sie nennen das in Ihrem Buch das „römische Modell“. Worum ging es den Kurienkardinälen?

Krätzl: Unter den Pius-Päpsten ist die Machtstellung des Papstes immer stärker geworden, damit einher ging auch eine Engführung der Theologie. Die Unfehlbarkeit wurde besonders betont und auch dieses Selbstbewusstsein, dass die römisch-katholische Kirche die Kirche schlechthin ist. Johannes XXIII. hat gemerkt, dass diese Position der Kirche nicht mehr haltbar ist. Er hatte ein Gespür für das Heraufziehen einer Moderne, die ganz anders gedacht hat. Er wollte die Kirche für die künftige Zeit fit machen. Er wollte die Kirche ins heute bringen: Aggiornamento, das war sein großer Wunsch.

religion.ORF.at: Wie waren allgemein die Vorstellungen und Einschätzungen, was aus dem Konzil werden soll?

Krätzl: Die waren sehr unterschiedlich. Es sind von einer Reihe von Bischöfen Eingaben gemacht worden, man soll ähnlich wie im Trienter Konzil wieder Dogmen formulieren, die Lehre also eher einengen und die katholische Kirche von den anderen abgrenzen. Das waren vor allem Stimmen aus Lateinamerika, manche italienische und spanische Bischöfe.

Auf der anderen Seite waren die Bischöfe, die in ihren Ländern schon lange eine sich modern entwickelnde Theologie erlebt haben. Das waren vor allem die Franzosen, die Belgier, die Niederländer, die Deutschen und auch die Österreicher. Dort hat es eben schon längst eine ökumenische Bewegung gegeben, die aber von Rom nicht gerne gesehen wurde. Es gab eine liturgische Bewegung und eine exegetische Bewegung, die längst schon die von Rom verbotenen neuen Methoden der Exegese verwendet hat. Diese Bischöfe haben sich dann in den Kommissionen durchgesetzt und denen hat man zu verdanken, dass das Konzil so viel Neues gebracht hat.

religion.ORF.at: Diese Bischöfe haben ja gleich zu Beginn des Konzils das Heft in die Hand genommen, als es darum ging, Kommissionen zu wählen. Sie haben das live miterlebt.

Krätzl: Es war, wie man heute sagt, ein Eklat. Die Kurie hat versucht, diese Arbeitsgruppen so einseitig zusammenzustellen, damit ihre Vorschläge durchkommen. In einer Sitzung, in der über diese Namenslisten abgestimmt werden sollte, sind der Kardinal Frings aus Köln und der Kardinal Lienart aus Lyon aufgestanden und haben sich zu Wort gemeldet, obwohl sie das Wort gar nicht gehabt hätten. Sie haben laut protestiert und haben gesagt: Wir müssen diese Wahl verschieben, da wir diese Leute viel zu wenig kennen, und wir glauben auch, dass diese Zusammensetzung viel zu einseitig ist. Es hat einen donnernden Applaus in der Konzilsaula gegeben, was auch verboten gewesen wäre, und da hat man schon gesehen, dass das Gros der Bischöfe durchaus der gleichen Meinung war.

religion.ORF.at: Das war also damals eine Bischofsinitiative?

Krätzl: Eine Bischofsinitiative, ja, in einer sehr mutigen Weise. Das gibt auch die Stimmung wieder. Die Bischöfe hatten diesen Mut, weil sie den Papst hinter sich gewusst haben. Den zuerst genannten deutschen, belgischen, französischen und österreichischen Bischöfen ist es auch um die Neubetrachtung des Bischofsamtes gegangen.

Und eines der wichtigsten Ergebnisse des Konzils ist sicher die Kollegialität: Die Leitung der Kirche liegt nicht nur beim Papst sondern beim Bischofskollegium. Alle Bischöfe mit dem Papst zusammen leiten die Kirche. Und das hätte – ich sage hätte, weil es leider nicht durchgedrungen ist – die Folge gehabt, dass jeder Bischof nicht nur in seiner eigenen Diözese große Vollmacht hat, sondern zugleich auch als Mitglied des Weltepiskopates eine große Verantwortung für die Weltkirche. Das ist leider nach dem Konzil fast nicht zur Geltung gekommen. Vielleicht ist das 50-Jahr-Jubiläum heuer ein Anlass hier nachzudenken und zu schauen, was man damals wollte und was an Potenzialen bis heute nicht gehoben ist.

religion.ORF.at: Wer soll denn nachdenken und die Potenziale heben?

Krätzl: Alle. Vor allem die Bischöfe. Und jeder auf seine Art. Es bräuchte mehr Kollegialität der Bischöfe, man müsste den Laien noch größere Bedeutung in der Mitverantwortung geben und das synodale Wesen stärken. Die Liturgiebewegung ist längst nicht zu Ende und müsste dezentralisiert werden. Inkulturation ist nur möglich, wenn das in den Kulturen in Eigenregie gemacht wird.

Auch die Ökumene sollte weiter gehen. Die Theologen haben in vier großen Buch-Bänden Argumente wachsender Übereinstimmung gesammelt. Da ist noch viel zu wenig draus geworden. Auch in der Ehelehre, die durch die Enzyklika „Humanae Vitae“ eingeengt wurde, muss man weiterdenken. Man müsste auf die Frage der wiederverheirateten Geschiedenen zurückkommen, auch wenn das beim Konzil noch nicht Thema war. In manchen Fragen waren wir schon viel weiter.

religion.ORF.at: Braucht es heute ein III. Vaticanum, um das II. weiterzuführen?

Krätzl: Nein, zurzeit nicht. So wie die Großwetterlage in der Kirche heute ist, würde ein III. Vaticanum wahrscheinlich versuchen, eine Korrektur des II. vorzunehmen. Man sollte aber die Potenziale heben. Das Konzil ist sogesehen längst noch nicht zu Ende.

religion.ORF.at: Was gibt Ihnen Hoffnung auf eine Weiterführung der Konzilsidee?

Krätzl: Mir gibt sehr viel von dem Hoffnung, was sich an der Basis tut. Ich erlebe in den Pfarren erstaunliche Lebendigkeit, auch erstaunliche Geduld bei den Laien, die es nicht immer leicht haben. Ich glaube, in der Kirchengeschichte sind die meisten Erneuerungen von unten gekommen. Dass sie von oben kommen, von einem Papst, das ist unter Johannes XXIII. einmalig gewesen.

Ich glaube, heute kommt die Erneuerung wieder von unten. Und darum ist es ganz gut, wenn es Bewegungen gibt, die die Themen im Gespräch halten und auch die Bischöfe daran erinnern. Die heißen Eisen darf man nicht abkühlen lassen. Im Gegenteil, man muss schauen, dass es hier zu einer Lösung kommt, und die Basis gibt mir Hoffnung. Man müsste auch all diese Bewegungen stärken und nicht allzu ängstlich sein, wenn sie in all ihrer Ungeduld da und dort über das Ziel hinausschießen.

Das Gespräch führte Maria Moser, religion.ORF.at

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