Historiker: Religionen zusehends in der Defensive

Der Leiter der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg, Johannes Heil, beobachtet wachsende Religionsfeindlichkeit in der Gesellschaft, wie er am Mittwoch sagte.

„Das Religionen-Bashing gehört ja zu der Erfahrung der letzten Jahre, ob es um Kopftücher, Glockengeläut, noch so kleine Minarette, Straßensperren zu Fronleichnamsprozessionen oder zuletzt zur Frage der Beschneidung geht“, sagte er am Mittwoch in Hamburg. Er äußerte sich beim Symposion „Religion der Vernunft - Vernunft der Religion in Judentum, Christentum und Islam“ der Eugen-Biser-Stiftung.

Religionshistoriker Johannes Heil

dapd/Sascha Schuermann

Religionshistoriker Johannes Heil

Gerade die jüngste Debatte um die religiöse Beschneidung von Buben, die „bis hinauf in die Qualitätspresse oft mit unsäglichen verbalen Begleiterscheinungen und entsprechender Bebilderung“ geführt werde, zeige, dass das Religiöse derzeit in der Defensive sei. „Wäre der Begriff Kulturkampf nicht so klar historisch besetzt, hier wäre er angebracht“, so der Religionshistoriker.

Religiöses „im Gegensatz zur Vernunft“

Heil nannte es fraglich, ob die drei monotheistischen Religionen bei der Frage nach der Vernunft die richtigen Adressaten seien. Vielmehr sei derzeit in der Gesellschaft zu erleben, dass das Religiöse mittlerweile mehrheitlich in der Außenbetrachtung „im unüberbrückbaren Gegensatz zu jeder Art von Vernunft gesehen“ werde. Zudem werde „keinerlei Anstrengung unternommen, dem Religiösen, dem Heiligen Ehrfurcht und Respekt entgegenzubringen“, kritisierte der Wissenschafter.

Der evangelische Theologe Fernando Enns hob die Notwendigkeit eines öffentlichen Dialogs der Religionen hervor, bei dem die Vertreter der Glaubensrichtungen einander authentisch begegnen könnten. „Religion ist keine Privatsache, wie viele lange geglaubt haben, sondern sie will und sucht immer die Öffentlichkeit, und dort gehört sie auch hin“, sagte der Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Freien Universität Amsterdam.

Khorchide: „Verhüllen nicht erforderlich“

Im freiheitlich-demokratischen Staat sei die Öffentlichkeit ein gesicherter Raum, wo die verschiedenen Identitäten zueinander in Beziehung treten könnten. „Dabei ist zu beachten, dass nicht der säkularisierte Staat die Grundlage für den Dialog der Religionen schaffen kann, sondern die Begründungen und Motivationen dazu aus den Religionen selber kommen muss.“ Ansonsten werde kein nachhaltiger Dialog zustande kommen, sagte Enns.

Religionswissenschaftler Mouhanad Khorchide

dapd/Volker Hartmann

Islamwissenschafter Mouhanad Khorchide

Am Rande des Symposions der Biser-Stiftung übte der Münsteraner Islamwissenschafter Mouhanad Khorchide Kritik an Verfechtern und Verfechterinnen der Ganzkörperverschleierung für muslimische Frauen. „Von einem aufgeklärten Islam her, wie er heute gelebt werden sollte, ist das komplette Verhüllen von Gesicht und Körper nicht erforderlich“, sagte der Professor für islamische Religionspädagogik an der Universität Münster am Mittwoch.

Am Dienstagabend hatte eine Muslima in der ARD-Talkshow „Menschen bei Maischberger“ erklärt, sie trage den Ganzkörperschleier, um sich den Blicken von Männern zu entziehen. So fühle sie sich freier. „Mit dieser Haltung reduzieren sich Frauen selbst auf Sexobjekte. Das ist sehr bedauerlich“, sagte Khorchide.

„Nicht reflexartig auf Provokationen reinfallen“

Weiter sagte der Wissenschafter, der Islam in Europa stände zunehmend unter einem Rechtfertigungsdruck. Die Reaktion vieler Muslime auf das umstrittene Anti-Islam-Video „Die Unschuld der Muslime“ sei falsch. „Die Macher des Videos wollten provozieren, und viele Muslime fallen immer wieder reflexartig auf solche Provokationen rein. So etwas sollte man einfach ignorieren“, sagte der in Beirut geborene Wissenschafter, der lange in Wien gelebt und unterrichtet hatte.

Stattdessen sollten sich Muslime die Frage stellen, wie ihre Religion die europäische Gesellschaft bereichern könne, wie es im 9./10. Jahrhundert durch namhafte islamische Philosophen gelungen sei. Zudem sollten Islam und Christentum bei der Frage nach religiösen Werten wie Nächstenliebe und Familie zusammenarbeiten. „Wo nur noch Karriere, Konsum und Egoismus im Vordergrund stehen, ist es doch gemeinsamer Auftrag von Christentum und Islam, die heutige Gesellschaft mit solchen Werten zu bereichern. Die Menschen sehnen sich danach“, unterstrich Khorchide.

KAP

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