Aschura: Kollektive Schuld und Buße

An Aschura, dem zehnten Tag des islamischen Jahres begehen die Schiiten eines ihrer bedeutendsten Feste. Sie gedenken des Todes Husseins bei Kerbela. Die Glaubenden trauern um ihren dritten Imam und leisten in eindrücklichen Ritualen Buße für seinen Tod.

Tausende Menschen ziehen durch die Straßen und schlagen sich mit ihren Fäusten auf die Brust. Immer wieder rufen Sprechchöre laut und rhythmisch „Haidar“, der Löwe - der Ehrenname von Mohammeds Schwiegersohn Ali. Frauen stimmen Klagelieder an und junge Männer geißeln sich oder schlagen sich mit Schwertern und Dolchen ihre Stirnen blutig. Es sind eindrückliche Bilder, die man zu sehen bekommt, wenn man etwa auf der Video-Plattform Youtube nach Aschura (beziehungsweise Ashura) sucht. Und es sind diese Bilder, die in Europa lange Zeit stellvertretend für den schiitischen Islam standen.

Der zehnte Tag des Jahres

Aschura bezeichnet den zehnten Tag des ersten Monats des islamischen Jahres. Es leitet sich von dem arabischen Wort aschara ab, das „zehn“ heißt.

Passion auf Schiitisch

„Es gibt wohl keine islamische Tradition, die so häufig und so gründlich von zufälligen Beobachtern wie von Orientalisten und Ethnologen beschrieben worden ist“, schreibt Annemarie Schimmel, die 2003 verstorbene Grande Dame der deutschen Islamwissenschaft in ihrem Buch „Das islamische Jahr“. Tatsächlich scheinen die Rituale, die am zehnten Tag des Islamischen Jahres zu ihrem Höhepunkt gelangen, auf Europäer eine ganz besondere Anziehung auszuüben– vielleicht auch deshalb, weil so manches an den schiitischen Trauerfeierlichkeiten nicht nur den Hauch des Fremden, Mystischen hat, sondern ebenso an christliche Passionstraditionen erinnert.

Geißler beim Aschura-Fest in Pakistan

Reuters / Fayaz Aziz

Selbstgeißelungen sind ein fester Bestandteil der Bußriten zu Aschura

Auch in den Aschura-Riten geht es um Schuld und Sühne. Während das Christentum aber auf eine Erlösung von einer allgemeinen Erbsünde hofft, machen die Schiiten ihre kollektive Schuld an einem ganz konkreten Ereignis fest. Um ein Gefühl für die Hintergründe des Aschura-Festes zu bekommen, lohnt ein Blick in die Geschichte der Schiiten. Und diese Geschichte hat ihren Dreh- und Angelpunkt in den Ereignissen bei Kerbela im Jahr 680, derer sich die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft innerhalb des Islams an Aschura erinnert.

Ungeklärte Nachfolge

Die Vorgeschichte zur „Tragödie bei Kerbela“ beginnt mit den Nachfolgestreitigkeiten nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632. Der nach Ansicht der Schiiten einzig legitime Nachfolger Mohammeds, sein Cousin und Schwiegersohn Ali, wird bei der Wahl des Kalifen dreimal übergangen. Erst nach zwölf Jahren und dem gewaltsamen Tod des dritten Kalifen Uthman wird Ali von seinen Anhängern selbst zum Kalifen erhoben – eine Wahl, die nicht von allen in der islamischen Umma, der Gemeinschaft der Muslime, anerkannt wird.

Die Partei Alis

Schia heißt auf Arabisch „Partei“ oder „Anhängerschaft“ und diente auch zur Bezeichnung der Anhänger Alis. Der Begriff wurde schließlich zum Namen einer Glaubensrichtung. Deren Anhänger werden Schiiten genannt.

In der Folge kommt es zum Konflikt zwischen Ali und seinem Gegenspieler Muawiya, ein Verwandter des ermordeten Uthman. Nach der Ermordung Alis 661 beugt sich sein ältester Sohn Hasan der Herrschaft Muawiyas. Er soll jedoch nach schiitischer Überlieferung auf dessen Geheiß hin vergiftet worden sein und gilt nach seinem Vater als der zweite rechtmäßige Imam.

Keine Hilfe für Hussein

Ali hat mit der Prophetentochter Fatima jedoch einen zweiten Sohn, Hussein. 680 stirbt der Kalif Muawiya in Damaskus und setzt zuvor noch seinen Sohn Yazid als Nachfolger ein. Die Anhänger Alis im irakischen Kufa fordern daraufhin Hussein dazu auf, das Kalifat für sich selbst zu beanspruchen. Sie sichern ihm die Unterstützung tausender Getreuer zu, worauf sich der damals schon über 50-jährige Nachkomme Mohammeds auf den Weg nach Kufa macht.

Hussein sollte allerdings nie in der irakischen Stadt ankommen. Er und seine Begleiter werden von Yazid-treuen Truppen 70 Kilometer nördlich von Kufa, bei der Ortschaft Kerbela, abgefangen. Ohne die erhoffte Hilfe aus Kufa sind Hussein und seine Gefährten – nach schiitischer Überlieferung 72 Mann – den Truppen des Kalifen heillos unterlegen. Der Enkel Mohammeds fällt wie fast alle seine Begleiter im Kampf.

Aschura-Prozession mit Pferd

dapd / AP

Bei den Prozessionen wird auch ein Pferd mitgeführt. Es heißt „Der Geflügelte“ und repräsentiert einerseits Husseins Pferd. Andererseits soll es als Reittier für den zwölfte Imam, dessen Ankunft noch erwartet wird, dienen.

Das ritualisierte Selbstopfer

Husseins Tod bei Kerbela bedeutete zwar das politische Scheitern der Anhänger Alis, war aber gleichzeitig die Initialzündung der schiitischen Religiosität. Nach der „Tragödie von Kerbela" machen sich unter Husseins Anhängern in Kufa schwere Schuldgefühle breit. Es bildet sich eine Gruppe von Männern, die als „die Büßer“ in die schiitische Tradition eingehen sollte. Die Schuld, dem Prophetenenkel nicht zu Hilfe gekommen zu sein, lastet so schwer auf diesen Männern, dass sie nur noch einen Ausweg sehen: den Sühnetod auf dem Schlachtfeld. 684 machen sie sich auf den Weg Richtung Syrien – eine Reise, die wie erhofft im Jänner 685 in einem Massaker durch syrische Truppen endet.

„Die kufische Büßerbewegung ist der eigentliche Ursprung des schiitischen Islams“, schreibt der Tübinger Islamwissenschaftler Heinz Hahn. Denn die Bereitschaft zum Selbstopfer werde zu dem zentralen Element der schiitischen Religiosität, so Hahn, der aber ebenso feststellt: „Nun hätte eine Religionsgemeinschaft oder Sekte, die sich den kollektiven Untergang zu ihrem Ziele erwählte, keine lange Lebenserwartung.“ Dass die Schiiten nicht ihren Sühnevorstellungen zum Opfer fielen, liegt daran, dass sie das Selbstopfer ritualisierten. In den Aschura-Riten trauern die Schiiten nicht nur um ihren gefallenen Imam Hussein. Mit Geißelung und Schwertschlägen wiederholen sie in ritualisierter Form das Selbstopfer der Büßer aus Kufa.

Blut und Spiele

Dabei haben die Schiiten rund um das Aschura-Fest eine beachtliche Anzahl an Traditionen und Gebräuchen entwickelt. Bereits der älteste erhaltene Bericht über Aschura-Rituale, eine Bagdader Chronik von 963, berichtet von Prozessionen und nachgestellten Szenen der Ereignisse von Kerbela. Aus diesen entwickelten sich im Laufe der Zeit richtige Passionsspiele. Diese erzählen in den ersten zehn Tagen des Muharram - der erste Monat des islamischen Jahres – Tag für Tag ein Stück der tragischen Geschichte Husseins.

"Sargträger" bei Aschura-Fest in Indien

dpadp / AP

Der Tabut, der Sarg Husseins ist zentral für jede Aschura-Prozession. In Indien heißen die kunstvoll gestalteten Gebilde Taziye, Trauerzeichen.

Vor allem im Iran waren diese dort Taziye genannten Aufführungen sehr beliebt, bevor sie unter dem laizistischen Reza Schah Pahlavi in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts verboten wurden. Dass die Passionsspiele im Iran aber auch nach der Revolution noch immer keine große Rolle spielen, mag damit zusammenhängen, dass die Mullahs selbst ihnen eher ablehnend gegenüber stehen – wie die schiitischen geistlichen Gelehrten auch den Geißelungen und Selbstverletzungen nur wenig abgewinnen können.

Demonstrierte Eigenheit

Je nach Region haben sich teils ähnliche, teils sehr eigene Traditionen herausgebildet. Aber in allen Gegenden, in denen die Schiiten einen bedeutenden Anteil an der Bevölkerung stellen, sind große Prozessionen fixer Bestandteil des Aschura-Festes. Städtische Vereine veranstalten diese Umzüge, an denen im Libanon genauso wie im Irak, Iran und Teilen Indiens, Afghanistans und Pakistans hunderte bis tausende Menschen teilnehmen.

Vor allem in Gebieten, in denen die Schiiten nicht die Mehrheit stellen, bergen diese Prozessionen wenig überraschend ein ausgeprägtes Konfliktpotential. Wird in ihnen doch nicht nur die Spaltung der islamischen Gemeinschaft vor Augen geführt, sondern die Sunniten als Mörder des Prophetenenkels angeklagt. Dies führte in der Vergangenheit nicht nur zu Auseinandersetzungen bis hin zu Straßenschlachten zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen, sondern ließ die Aschura-Prozessionen in den letzten Jahren vermehrt zu Zielen von Anschlägen werden - mehr dazu: Anschläge werfen Schatten auf Aschura-Fest voraus.

Aber auch heuer wird dies Tausende von Schiiten nicht davon abhalten, in eindrücklichen Ritualen um ihren Imam Hussein zu trauern und Buße für seinen Tod zu leisten.

Martin Steinmüller, religion.ORF.at