Ägypten: Ringen um Religionsfreiheit

Was während des „arabischen Frühlings“ auf dem Tahir-Platz erkämpft wurde, ist nun wieder bedroht: die Aussicht auf Demokratie nach westlichen Maßstäben und auch die freie Religionsausübung, um die viele Christen fürchten.

Ägypten steht vor einer Zerreißprobe. Es gibt Massendemonstrationen gegen die Regierung der Muslimbrüder unter Präsident Mohammed Mursi, die in ihrer Verzweiflung an jene des Arabischen Frühlings erinnern. Bei gewaltsamen Protesten in den letzten Tagen kam es zu Toten und vielen Verletzten. Was damals auf dem Tahir-Platz erkämpft wurde, ist nun wieder bedroht: Demokratie nach westlichen Maßstaben und auch die freie Religionsausübung. Betroffen davon ist auch die große christliche Mehrheit des Landes.

Der aus der koptischen Minderheit stammende Vizevorsitzende der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) in Ägypten, Rafik Habib, gab seine politischen Ämter auf. Das geschah als Reaktion auf die Zusammenstöße in Folge des im Eilzugstempo beschlossenen neuen Verfassungsentwurfs. Er stehe auch nicht mehr als Berater für Präsident Mursi zur Verfügung, erklärte der Politikwissenschaftler am Donnerstag via Facebook.

Katholiken: Kein Aufruf zu Boykott

Habib engagierte sich seit Jahren in Kreisen der Muslimbruderschaft. Kirchenführer distanzieren sich unterdessen jedoch von Aufrufen zur Totalopposition und zu einem Boykott des Verfassungsreferendums. „Ich habe mich entschlossen, meine politische Rolle für jetzt und zukünftig aufzugeben, einschließlich meine Funktionen in der Präsidentschaft und der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“, schrieb Habib. Er wolle seine frühere Tätigkeit als Politikwissenschaftler und Analyst wieder aufnehmen. Neben Habib hatten sich auch anderen Berater von Mursi distanziert.

Aus der katholischen Kirche übte am Freitag der Apostolische Vikar von Alexandria, Bischof Adel Zaki, Kritik am ägyptischen Verfassungsentwurf. Zugleich lehnte er einen Boykottaufruf zum geplanten Referendum ab. Der Verfassungstext spalte das Land, sagte Zaki dem vatikanischen Pressedienst Fides. Die heftigen Proteste dieser Tage zeigten, dass ein großer Teil des Volkes den Entwurf ablehne. Das dürfe nicht einfach ignoriert werden, so der katholische Bischof.

Allerdings wäre es nach Ansicht Zakis nicht hilfreich, wenn die Kirchen in Ägypten zu einem Boykott des Referendums am 15. Dezember aufriefen. Man müsse vielmehr auf die Urteilskraft der Menschen setzen. „Aber es sollte auch jeder nach seinem Gewissen und in voller Freiheit abstimmen“, sagte er.

„Reißen ihnen die Augen aus“

Gewaltdrohungen gegen Christen durch Islamisten sind keine Seltenheit. Der Generalsekretär der „Partei für Aufbau und Entwicklung“, Mohammed Abu Samra, sagte in einem Interview mit dem Nachrichtensender Al-Arabija: „Wenn sie sich gegen die Legitimität stellen, dann werden wir äußerste Gewalt anwenden.“ Der für seine radikalen Ansichten bekannte Fernsehprediger Abdullah Badr sagte in einer Talkshow des Senders Al-Hafez, es seien die Christen, die den Protest gegen Präsident Mohammed Mursi anführten, „und wenn ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann reißen wir ihnen die Augen aus“.

Ägyptens Präsident Mohammed Mursi und der Kopten-Patriarch Tawadros II.

APA/EPA/Egyptian Presidency/Handout

Ägyptens Präsident Mohammed Mursi und der Kopten-Patriarch Tawadros II.

Die „Aufbau- und Entwicklungspartei“, die dem Islamistenbündnis unter Führung der salafistischen Al-Nour-Partei angehört, hatte bereits am Dienstag die Kopten gewarnt. Bei den Protesten gegen die jüngsten Schachzüge von Präsident Mursi dürfe es nicht zu „Chaos“ kommen, warnte die Parteileitung. Die islamistische Gruppe „bat“ die Kopten, „angesichts der zahlreichen koptischen Verbände unter den demonstrierenden Gruppen“ möglichst „deeskalierend“ aufzutreten. Auch der neue koptisch-orthodoxe Patriarch Tawadros II. hatte zuvor zu Gewaltlosigkeit bei den Protesten aufgerufen.

Furcht vor Islamisierung Ägyptens

Über die von Mursi durchgepeitschte neue Verfassung soll am 15. Dezember abgestimmt werden. Aus der verfassungsgebenden Versammlung sind inzwischen fast die Hälfte der 100 Mitglieder ausgetreten. Der Entwurf will nicht nur wie bisher die „Grundlagen der Scharia“ als Basis für die Rechtsprechung stellen, sondern räumt in weiteren Artikeln einer Islamisierung Ägyptens breiten Raum ein. Kritiker befürchten insbesondere Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit.

Christen in Ägypten

Die Angaben über den Anteil der Christen an der Bevölkerung Ägyptens schwanken stark. Schätzungen gehen von fünf bis acht Millionen aus, zwischen sechs und zehn Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen sind koptische Christen.

Nach Ansicht des Seelsorgers der Kairoer deutschsprachigen katholischen Pfarre, Joachim Schroedel, steht das Land vor seiner kritischsten Phase seit der Staatsgründung von 1952. Wie viele andere Ägypter auch setze die christliche Minderheit dennoch weiterhin auf eine „positive Entwicklung für Ägypten und die Grundlegung einer wahrhaftigen Demokratie“, sagte er am Mittwoch der deutschen katholischen Nachrichtenagentur KNA.

Die Muslimbrüder, so Schroedel, seien zwar sehr gut organisiert, aber unfähig zur Lenkung eines Staates mit allen Herausforderungen. Schroedel befürchtet eine lang anhaltende Staatskrise. Gleich, wie die angeordnete Abstimmung über den Verfassungsentwurf ausgehe, stehe dem Land „eine unruhige, ungewisse und wohl auch zunächst sehr ungerechte Zukunft“ bevor.

Großer Druck auf Kopten

Der politische Druck auch auf die koptische Gemeinde ist groß, alle Hoffnungen liegen nun auf dem neuen Oberhaupt der koptischen Christen in Ägypten, Tawadros II. Von ihm heißt es, er wünsche sich eine offene Gesellschaft und ein friedliches Nebeneinander von Muslimen und Christen.

Schon Tawadros’ Vorgänger Schenuda III. hatte öfter davor gewarnt, dass sich nach einem Sturz Hosni Mubaraks die Situation für die christliche Minderheit in Ägypten verschlimmern könnte. Bei den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz 2011 hatten sich viele junge Christen engagiert, in der Hoffnung, Ägypten über die Religionsgrenzen hinweg gleichberechtigt mitgestalten zu können. Seit dem politischen Aufstieg der Muslimbruderschaft häufen sich jedoch Meldungen über die Vertreibung von Kopten aus ägyptischen Dörfern und Städten.

KAP/religion.ORF.at

Mehr dazu:

Links: