Forschung: Nationalsozialismus war für viele Österreicherinnen „modern“

Neue Forschungserkenntnisse zur Rolle von Frauen im Nationalsozialismus präsentierte die Kulturwissenschafterin Elissa Mailänder in Berlin. Austrofaschismus verstärkte Begeisterung für das neue System.

Aus der religiösen Strenge zur Zeit des Austrofaschismus zwischen 1934 und 1938 erkläre sich vielfach die Begeisterung mancher österreichischer Frauen für das neue System des Nationalsozialismus, sagte die am Pariser Centre d ́histoire de Sciences Po lehrende Kulturwissenschafterin Elissa Mailänder im Gespräch mit der APA in Berlin.

Frauen in der NS-Zeit

SS-Leitheft, 7. Jahrgang, Folge 11a/b

Antiklerikal

„Es gab damals Familienteile, die gegen den Nationalsozialismus waren, andere sahen in ihm eine Befreiung, weil er antiklerikal war“, sagte Mailänder am Rande der 4. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung in Berlin. Der Nationalsozialismus wäre vielfach in Österreich als modern, als Aufbruch, als Befreiung aus der Enge verstanden worden, so die Wissenschaftlerin. Er sei mitunter deshalb als attraktiv empfunden worden, weil er die Zivilehe und erstmals für Katholiken die Ehescheidung ermöglichte.

„Raum zum Interagieren“

„Der Nationalsozialismus ist nicht prüde. Er gab Frauen etwa Raum zum Interagieren mit Wehrmachtsoldaten“, sagte die Wissenschaftlerin nach ihrem Vortrag vor der Konferenz. „Das macht auch eine der Attraktivitäten des Nationalsozialismus aus.“ Der austrofaschistische Ständestaat habe die Probleme Österreichs nicht in den Griff bekommen und dann auch die sozialen Leistungen zurückgefahren.

Sexuelle Freiheit

Vielen Frauen habe sich mit dem „Anschluss“ eine neue Laufbahn eröffnet. Neben einer sicheren Ausbildung hätten sie Komfort und Machterfahrung erlebt. „Die zwischen 1918 und 1925 geborenen Frauen waren Teenagerinnen, das Erwachen der Sexualität fiel in die vier Jahre des Austro-Faschismus“, sagte Mailänder. „Der Nationalsozialismus bot ihnen die sexuelle Freiheit, die sie vorher nicht gefunden hatten.“

NS-Gemeinschaft, die auch nach dem Krieg anhält

„Der Nationalsozialismus beschränkt sich in Österreich nicht auf Illegale und NS-Gefolgsleute“, so Mailänder. „Die österreichische Forschung hat sich lange auf Illegale beschränkt.“ So habe sie in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Zeitgeschichte, „die nicht die Aufmerksamkeit und Finanzierung hat, die sie bräuchte“, keine Hinweise auf Unterschiede zwischen Frauen aus Deutschland und Frauen aus Österreich gefunden, die in NS-Organisationen tätig waren. „Man sieht eine in sich geschlossene Gemeinschaft, die auch nach dem Krieg anhält“, sagte die Wissenschaftlerin bei der Konferenz, die den Titel „Volksgemeinschaft - Ausgrenzungsgemeinschaft. Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933“ trägt.

„Selbstverständnis war nicht politisch“

Im Nachhinein erst, mit der Opfertheorie Österreichs, sei eine Trennung konstruiert worden. Viele Frauen hätten aber auch nach dem Krieg regelmäßig Kontakt zu ihren ehemaligen Kolleginnen von Reichsarbeitsdienst oder Lebensborn gehalten. Allerdings: „Ihr Selbstverständnis war nicht politisch. Sie haben sich politisch nicht engagiert“, räumte Mailänder ein.

„Gewaltstimulierende Kraft des Passiven“

„Auf mikrosozialer Ebene handeln Menschen sehr unterschiedlich“, sagte sie. Viele Frauen hätten ihr Tun in der Maschinerie des Systems nicht reflektiert, sondern ein Gefühl der Befriedigung empfunden, etwas Sinnvolles zu tun. Dass sie den Gewaltakten nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938, vornehmlich gegen Juden, nicht zustimmten, aber auch nicht eingriffen, bezeichnet die Wissenschaftlerin als „gewaltstimulierende Kraft des Passiven“.
APA