Syriens Alawiten: Mächtige Minderheit?

Die Alawiten werden immer wieder als wichtige religiöse Minderheit in Syrien genannt und pauschal als regimetreu bezeichnet. Ein differenzierteres Bild zeichnete der Orientalist Stephan Prochazka im Rahmen einer Konferenz in Wien.

Die Konfliktlinien in Syrien verlaufen entlang der ethnisch-religiösen Grenzen. Und eine dieser Grenzen trennt die Alawiten, die mehrheitlich das Regime bilden und denen auch Präsident Bashar al-Asad angehört, vom Rest der Gesellschaft. So sehen zwei der gängigen Bilder aus, die in den Medien zum syrischen Bürgerkrieg immer wieder transportiert werden. Beide verzerren allerdings die Wirklichkeit, sagt der Syrien-Kenner und Orientalist Stephan Prochazka.

Im Rahmen der europäisch-arabischen Konferenz „The Contribution of Religious Minorities to Society“, die von 1. bis 3. Juli an der Universität Wien stattfand, war Syrien ein wichtiges Diskussionsthema. Prochazka beleuchtete im Zuge dessen die Rolle der Alawiten in der aktuellen Krise. Sowohl die Einschätzung, dass diese quasi geschlossen das Regime stellten, als auch jene, dass die Konfliktlinien im Land sauber zwischen religiösen und ethnischen Gruppen verliefen, weist der Experte als grobe Vereinfachungen zurück.

Syriens Präsident Bashar al-Asad vor dem Zentralkomitee der al-Baath-Partei

Reuters/SANA/Handout via Reuters

Präsident Bashar al-Asad für dem Zentralkomitee der al-Baath-Partei

Lage höchst instabil

Alawit zu sein sei keineswegs gleichbedeutend mit der Unterstützung der herrschenden Regierung, erklärt Prochazka. Auch die Christen – ob armenisch-apostolisch, syrisch-orthodox oder andere – seien keineswegs überwiegend Teil der „Pro-Asad“-Fraktion. Umgekehrt gebe es bedeutende Teile der sunnitischen Mehrheit, die nach wie vor in das Regime eingebunden seien. Die Lage im Land sei insgesamt „flüchtig und schwankend“, so Prochazka.

Dass die Alawiten in Syrien trotz ihrer relativ geringen Zahl – etwa zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung – eine wichtige Rolle im politischen System einnehmen, führt Prochazka auf die Zeit der französischen Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Frankreich habe nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1918 – nach dem Prinzip „teile und herrsche“ – die im wenig angesehen Militärapparat überproportional vertretenen Alawiten privilegiert und ihnen einen eigenen Alawitenstaat zugesprochen, der von 1920 bis 1936 bestand.

Auch nach dem Ende des eigenen Staats blieben die Alawiten in der Armee und in der panarabischen Baath-Partei stark vertreten. Dieser Trend verstärkte sich besonders nach der Machtübernahme von Hafez al-Asad, dem Vater des derzeitigen Präsidenten Bashar al-Asad, im Jahr 1970.

Tief verwurzelte Vorurteile

Vorurteile gegen Alawiten sind tief verwurzelt, deshalb praktizierten diese die so genannte „Taqiyya“, das Verbergen der wahren Überzeugung gegenüber der Öffentlichkeit. Denn immer wieder werden Legenden und Gerüchte laut, die Alawiten feierten nächtliche Orgien und praktizierten die Verehrung der weiblichen Genitalien. Wahr ist nur, dass Alawiten kein Fleisch von weiblichen Säugetieren zu sich nehmen, und - wie alle Muslime – kein Schweinefleisch essen.

Eine Alawitin mit ihrem Kind betend an einer Mauer sitzend in Syrien

Reuters/Umit Bektas

Eine Alawitin betend bei einem alawitischen Heiligtum

Bis heute sind Bücher und Publikationen über die Alawiten in Syrien verboten. Der Grund dafür, so Prochazka, sei bei den Alawiten selbst zu suchen: Sie hätten alles dafür getan, ihren Ruf als häretische Sekte loszuwerden, und versucht, sich als Muslime zu deklarieren. 1973 hatten orthodoxe Gelehrte mit Rückendeckung der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit eine Verfassungsbestimmung durchgesetzt, die den Präsidenten zu einem Bekenntnis zum Islam verpflichtete.

Geheime Religion

Weil den Alawiten selbst daran liegt, ihre Religion möglichst geheim zu halten, ist auch über ihre Theologie nicht viel bekannt. Alawiten sprechen zwar von „Allah“, doch nach alawitischer Kosmologie ist dieser eine Lichtgottheit, über die nichts ausgesagt werden kann. Die Ursprünge des Alawitentums in Syrien liegen im 9. Jahrhundert, als Muhammed-ibn-Nusayr aus dem Irak auf dem Gebiet des heutigen Syriens tätig wurde. Er gilt als Gründer der Bewegung. Deshalb hießen die Alawiten bis ins 20. Jahrhundert auch „Nusayrier“.

Es werden nur einige wenige Männer in die Religion eingeweiht und initiiert. Zentral im alawitischen Glauben ist Ali, der ermordete Schwiegersohn und Cousin des Propheten Mohammed. Darin gleichen sich Alawitentum und schiitischer Islam. Es finden sich aber auch mystische und nach Ansicht mancher Orientalisten auch christliche Elemente im Alawitentum - etwa in ihrer Lehre, Ali stelle eine Manifestation Gottes dar.

Die Allegorien der fünf Säulen des Islam

Die Bezeichnung „Alawiten“ geht - wie auch bei den türkischen Aleviten – auf Ali zurück. Für die Alawiten ist er eine Manifestation Allahs. Die fünf Säulen des Islam haben für die Alawiten neben ihrer herkömmlichen Interpretation auch allegorische Bedeutung.

Dem Glaubensbekenntnis, der Schahada, kommt so beispielsweise besondere Bedeutung zu, weil ihr erster Teil im Arabischen aus genau zwölf Buchstaben besteht – für die Alawiten ein Hinweis auf die ersten zwölf Imame. Die fünf täglichen Gebete stehen indes für je eine Person aus der Familie des Propheten, das Fasten – bei den Alawiten auch mit einer Schweigepflicht verbunden – für die Geheimhaltung der Religion, das Almosen-Geben für die Weitergabe dieses Geheimwissens und die Pilgerfahrt nach Mekka für eine mystische Reise zur vollkommenen Erkenntnis.

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