Theologie der Befreiung: Totgesagte leben länger

Die in Lateinamerika entstandene Theologie der Befreiung war den dort herrschenden Regimen wie dem Vatikan lange ein Dorn im Auge. Inzwischen führt sie ein mediales Schattendasein. Ihre Anliegen sind nach wie vor aktuell.

Ruhig geworden ist es um die Theologie der Befreiung, auch wenn ihre Anliegen nach Ansicht ihrer heutigen Vertreter aktueller denn je sind. Martin Maier, Jesuit und Leiter des Berchmanskollegs der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München, ist einer von ihnen. Maier hat mehrere Jahre in El Salvador verbracht, sieht sich selbst als Befreiungstheologen und kennt oder kannte viele der lateinamerikanischen Vorreiter dieser Strömung persönlich.

Gustavo Gutierrez

APA/EPA/Raul Garcia

Gustavo Gutierrez gilt als „Vater“ der Theologie der Befreiung

Die Befreiungstheologie sei keineswegs tot, sagt er im Gespräch mit religion.ORF.at und verweist auf eine ironische Aussage von Gustavo Gutierrez - dieser habe einmal gesagt, sie könne gar nicht tot sein, solange er als ihr Vater keine Einladung zur Beerdigung bekommen habe. Doch welche Rolle spielt die Befreiungstheologie heute noch? Und was bedeutet ein Papst, der sich selbst die „Option für die Armen“ auf die Fahnen schreibt, für diese Strömung?

Nachwirkung des Konzils

Um die „Theologie der Befreiung“, getauft von ihrem „Vater“ Gustavo Gutierrez durch das gleichnamige Buch aus dem Jahr 1971, zu verstehen, muss man ihre Anfänge kennen. Seit der Kolonisation Lateinamerikas im 16. Jahrhundert stand die katholische Kirche stets in enger Verbindung mit den herrschenden Eliten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Wirtschaft der südamerikanischen Staaten einen Aufschwung, der allerdings nur wenigen zugutekam - Armut prägte das Bild der Gesellschaft, die Schere zwischen Arm und Reich klaffte immer weiter auseinander. Die Öffnung der katholischen Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965) bewirkte schließlich ein Umdenken in der kirchlichen Führungsetage des Subkontinents.

Martin Mair

privat

Martin Maier (geb. 1960) ist seit 1979 Mitglied des Jesuitenordens. Seine Studien führten ihn unter anderem nach El Salvador.

Von 1995 bis 2009 arbeitete er für die deutsche katholische Zeitschrift „Stimmen der Zeit“, ab 1998 als Chefredakteur.

Seit 2009 ist er Rektor des Berchmanskollegs in München.

Bei einer Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe im kolumbianischen Medellin im Jahr 1968, die bis heute als Geburtsstunde der Theologie der Befreiung gilt, sollte das Zweite Vatikanische Konzil kreativ ausgelegt werden.

Anleihen beim Marxismus

Angesichts der katastrophalen sozialen Verhältnisse in den jeweiligen Ländern lag die Betonung der Armut nahe - die Bischöfe entdeckten das theologische Prinzip der „Option für die Armen“ neu. Gott habe sich - in der Person Jesu Christi - bewusst für einen Abstieg in ein begrenztes Leben, das Leben eines Armen, entschieden, so der Tenor. Als Konsequenz müsse auch die Theologie den Standpunkt der Armen einnehmen.

Mehrere Theologen, neben Gutierrez etwa Leonardo Boff, Jon Sobrino und Ignacio Ellacuria, nahmen diesen Ansatz auf und entwickelten ihn weiter zur Theologie der Befreiung, die direkt in den christlichen Basisgemeinden ansetzte und von dieser Sichtweise ausgehend massive Kritik an den herrschenden Strukturen und der daraus resultierenden sozialen Ungerechtigkeit übte. Teilweise wurden dafür auch Anleihen bei der marxistischen Gesellschaftsanalyse genommen.

Die Frage nach dem Warum

„Die Theologie der Befreiung ist ein Zurückgehen auf die Grundanliegen des Christentums“, erklärt Maier. „Schon im Alten Testament, wenn Gott die Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft befreit, zeigt sich: Gott ergreift Partei. Er setzt sich für die Menschen ein.“ Gleichermaßen stelle auch Jesus im Neuen Testament die Armen ins Zentrum.

Für die Befreiungstheologen bedeutet das auch eine praktische Handlungsanweisung, die über den Akt des Helfens hinausgeht und auch fragt, wo die Ursachen für die Armut liegen. Maier verweist in diesem Zusammenhang auf das berühmte Zitat des brasilianischen Erzbischofs Helder Camara, der sagte: „Wenn ich den Armen Essen geben, nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum sie arm sind, nennen sie mich einen Kommunisten.“

Heftige Kritik aus dem Vatikan

Vor allem die vermeintlich enge Beziehung der Theologie der Befreiung zum Marxismus stieß im Vatikan auf heftige Kritik und ist bis heute Hauptgrund für das gespannte Verhältnis zwischen der Befreiungstheologie und der sogenannten Amtskirche.

Prozession von Gläubigen mit Romero-Schildern

Reuters/Luis Galdamez

Oscar Romero wird in Südamerika schon heute wie ein Heiliger verehrt, so Martin Maier

Für Papst Johannes Paul II., der als Pole die Schattenseiten des Kommunismus am eigenen Leib erfahren hatte, war eine Verbindung von katholischer Theologie mit Sozialismus und Marxismus schlicht undenkbar. Ähnlich verhielt es sich mit seinem Nachfolger Benedikt XVI., der auf dem Höhepunkt des Konflikts als Präfekt der Glaubenskongregation die Speerspitze der römischen Kritik an der Theologie der Befreiung bildete. Lehr- und Publikationsverbote wurden erteilt, Leonardo Boff zum Beispiel legte sein Priesteramt nieder und trat aus seinem Orden aus.

Mehrere Todesopfer

Schlimmer waren allerdings die Reaktionen vonseiten der Politik Südamerikas, die zur Zeit des Aufstrebens der Theologie der Befreiung von zahlreichen Militärdiktaturen geprägt war. Wegen ihres sozialen Engagements und ihrer offenen Kritik an den herrschenden politischen Verhältnissen wurden die Befreiungstheologen teilweise gewaltsam verfolgt.

So wurden etwa 1989 in El Salvador sechs Mitglieder des Jesuitenordens, unter ihnen Ignacio Ellacuria, von Soldaten ermordet. Der bekannteste ermordete Anhänger der Theologie der Befreiung war aber wohl der damalige Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, der 1980 während einer Messe erschossen wurde.

Seligsprechung hinausgezögert

Wohl auch wegen seines Wirkens im Sinne der Theologie der Befreiung wird Romeros Seligsprechung, die von vielen Gläubigen in Lateinamerika gefordert wird, im Vatikan hinausgezögert. Papst Franziskus will sie jetzt dem Vernehmen nach beschleunigen – für Maier ist das ein gutes Zeichen in Richtung der Befreiungstheologie. „Der Vatikan würde damit etwas nachholen, was in Südamerika längst Realität ist, denn Romero wird dort schon jetzt wie ein Heiliger verehrt“, sagt Maier im Gespräch mit religion.ORF.at.

Die Kritik des Vatikans an der Befreiungstheologie führt der Experte auf Vorurteile und ein mangelndes Verständnis der Verhältnisse zurück, unter denen diese entstanden ist. Abgesehen davon gingen die zentralen Kritikpunkte – also der Vorwurf des Marxismus, der zu engen Verbindung von Glaube und Politik sowie jener, sie würde auch Gewalt als geeignetes Mittel propagieren – an der Hauptströmung der Befreiungstheologie vorbei.

„Natürlich besteht, wie auch anderswo, die Gefahr des Fundamentalismus“, so Maier, „aber ich bin der Überzeugung, dass zumindest die Hauptströmung der Theologie der Befreiung hier das nötige Gleichgewicht wahrt.“

Entspannung des Konflikts?

Die bisher letzte Auseinandersetzung zwischen dem Vatikan und der Befreiungstheologie liegt noch gar nicht so lange zurück: 2007 veröffentlichte die Glaubenskongregation eine „öffentliche Notifikation“, in der sie einige der Thesen des in El Salvador lebenden Jesuiten Jon Sobrino zurückweist.

Ein Kind spielt vor einer Reihe brüchiger Häuser mit einem Flugdrachen

Reuters/Ricardo Moraes

Die Favela Varginha in Rio de Janeiro. Hier, bei den Ärmsten, will die Theologie der Befreiung ansetzen

Im Zentrum der Kritik steht Sobrinos Christologie, also sein Verständnis der Figur Jesus Christus. Aus Sicht des Vatikans bringt Sobrino zu wenig deutlich zum Ausdruck, dass Jesus – wie es die Lehre der Kirche besagt – sowohl Mensch als auch Gott sei. Die Maßregelung stieß allerdings bei vielen Theologen auf Unverständnis und Kritik.

Martin Maier sieht trotz aller Probleme mit Rom auch massive Fortschritte. Die „Option für die Armen“, die von der Befreiungstheologie entscheidend mitformuliert wurde, habe auch ins amtskirchliche Lehramt Einzug gehalten, meint er. Sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. haben in seinen Augen in ihren Sozialenzykliken wesentliche Anleihen bei der Theologie der Befreiung genommen.

Franziskus und die „Option für die Armen“

Papst Franziskus, der seit dem Beginn seines Pontifikats die Armen ins Zentrum seines Wirkens stellt, ist für Maier zwar kein Befreiungstheologe, allerdings nur deshalb, weil er überhaupt kein Theologe sei. „Die Anliegen der Befreiungstheologie spielen bei ihm eine ganz wichtige Rolle“, zeigt sich der Experte überzeugt, „einerseits, wenn er von der ‚Option für die Armen‘ spricht, aber auch wenn es um das Verhältnis von Glaube und Gerechtigkeit geht“.

Franziskus habe auch bereits bei mehreren Gelegenheiten offene Kritik an den derzeitigen politischen und ökonomischen Systemen der Welt geäußert, die durchaus im Sinne der Theologie der Befreiung zu verstehen seien.

Michael Weiß, religion.ORF.at