Pressestimmen: „Bittere Pillen für Hardliner“

Die meisten Kommentare deutscher Zeitungen bewerten das Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ (Freude des Evangeliums) positiv. Klar scheint aber auch, dass die Reformen nicht mit Liberalisierung gleichzusetzen sind.

„Die Presse“

"Wann hat je ein Papst, noch dazu in einem hochoffiziellen Schreiben, davor gewarnt, die Christen könnten sich ‚allmählich in Mumien für das Museum verwandeln‘? Wann hat ein Bischof von Rom kirchliche Normen gegeißelt, die Priester in ‚Kontrolleure‘ statt Förderer der Gnade, in ‚unnachsichtige Richter‘ verwandeln oder die Religion insgesamt ‚in eine Sklaverei‘? Wann? Am Dienstag, als Franziskus sein Apostolisches Schreiben ‚Evangelii gaudium‘ (Freude des Evangeliums) veröffentlichen ließ.

Dieser Papst vom anderen Ende der Welt, der sich weigert, im Apostolischen Palast zu wohnen, ist für nicht wenige mehr oder weniger zentrale Spieler in der katholischen Kirche eine ständige Provokation. Sie begleiten vieles, was der Papst sagt und tut, mit Häme. Und rühren keinen Finger. Der Papst muss derartige Widerstände brechen. Franziskus gerät sonst in Gefahr, zum Rufer in der Wüste zu werden. Oder anders: zum Rufer, den viele hören und dem viele applaudieren. Den aber letztlich niemand erhört."

„Der Standard“

"Er will nicht nur die - zu Recht als verstaubt geltende - Kurie erneuern, sondern gleich das gesamte Papsttum. So könnte dieses Schreiben als eine Absage an den Zentralismus des Amtes interpretiert werden. Es könnte die Grundlage dafür sein, dass der Papst künftig die Ernennung neuer Bischöfe grundsätzlich den Bischofskonferenzen überlässt. Und es passt mit seiner Absicht zusammen, die Ortskirchen zu stärken - als ‚Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen‘.

Zwar lehnt er weibliche Priester strikt ab und spricht die heikle Frage der Homosexualität nicht an. Aber die Bemerkung, die Sakramente seien ‚nicht nur für die Gesunden und Starken" da, könnte auch einen Türöffner für geschiedene Wiederverheiratete darstellen.
Wenn Franziskus in dem Tempo weitermacht, könnte sogar ein Sturm der Veränderung losgetreten werden, der vieles im Vatikan vom Obersten nach unten kehrt.‘

„El Mundo“

"Der erste programmatische Text von Franziskus war mit Spannung erwartet worden, und die Veröffentlichung der apostolischen Lehrschrift „Evangelii Gaudium“ hat nicht enttäuscht. Der Papst präsentiert die Grundzüge seiner Vorstellungen für die katholische Kirche, und in Anbetracht des Lehrschreibens ist die Realität weit von dieser Vorstellung entfernt.

In einem Text voller Zitate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI., auf die er seine Gedanken stützt, stellt er eine Funktionsweise in Frage, die radikal umgestellt werden muss. Dieser selbstkritische Geist verleiht diesem ersten zur Gänze vom Papst geschriebenen Dokument fundamentalen Wert. (...) Diese Regierungserklärung, denn einer solchen kommt diese Lehrschrift gleich, deutet darauf hin, dass er tatsächlich die Revolution durchführen will, die er seit all diesen Monaten predigt."

"Spiegel Online

"‚Evangelii Gaudium‘, ‚Freude des Evangeliums‘, die erste umfassende programmatische Schrift seines Ponitifikats, ist eine Demonstration seines Mutes, der Kirche eine Radikalkur zu verpassen. [...] Franziskus macht sich auf, das Machtgefüge der Kirche grundsätzlich zu ändern. Und dabei nimmt er sein eigenes Amt nicht aus.

Dass ein Papst den Kapitalismus kritisiert, ihn verantwortlich macht für Ungleichheit, Armut und letztlich für Kriege und somit den Tod vieler Menschen, ist sicher keine Sensation. Doch wie er die Kritik vorträgt, wie er die Kirche und seine Gläubigen aufruft zum gewaltlosen Kampf gegen ein System, das alles dem ökonomischen Nutzen unterordne, ist ein neuer päpstlicher Stil. Sein Stil.

Wenn Franziskus in seiner Schrift die Liebe Gottes, die ‚Schönheit des Evangeliums‘ preist, richtet er sich an die Gläubigen. Doch er beherrscht auch eine andere Ansprache: ‚Nein zur neuen Vergötterung des Geldes‘, ‚Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen‘, ‚Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung‘, ‚Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt‘. Man fragt sich, ob man hier eine Petition von Attac liest oder eine Schrift des Heiligen Vaters."

„Christ und Welt“

"Mit Ausnahme der sehr entschiedenen Passage über die Abtreibung (‚Dies ist kein Thema, das mutmaßlichen Reformen unterworfen ist. Es ist nicht fortschrittlich, sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indem man ein menschliches Leben vernichtet.‘) spricht der Papst viele Themen so an, dass man je nach kirchenpolitischer Färbung daraus Wasser auf die eigenen Mühlen leiten kann. Es ist ein Text, der Konservative und Liberale, Verzagte und Begeisterte, kritisch Distanzierte und heftig Engagierte gleichermaßen ansprechen kann.

[...] wer jemals päpstliche Schreiben dieser Länge gelesen hat, spürt schon nach wenigen Sätzen, dass hier ein frischer Geist weht. Ähnlich hinreißend war es, wenn man die ersten Enzykliken Johannes Paul II. las: Plötzlich scheint eine ganz neue Lebenswirklichkeit hinter den Worten hervor. [...] Mit kräftigen Strichen zeichnet der Papst ein Bild der gegenwärtigen Menschen. Und besonders scharf, ja stechend, ist seine Analyse der kränklichen Befindlichkeit vieler Kleriker.

„Frankfurter Allgemeine Zeitung“

"Über die Tragweite seiner Kritik an vielen Erscheinungsformen des Lebens der Kirche macht sich der Papst keine Illusionen. Er selbst spricht davon, dass seine Worte zu einschneidenden Konsequenzen führen müssen - allen voran für die Kirchenverfassung und die Praxis der Seelsorge.

Unter Hinweis auf Papst Johannes Paul II. wirbt Franziskus für eine ökumenische Gestalt des Papstamtes, den mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin führt er an als Kronzeugen einer Hierarchie der Wahrheiten, den spätantiken Kirchenvater Ambrosius mit dem immer noch revolutionär klingenden Satz, das Abendmahl sei nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen. Franziskus spricht aber auch davon, dass all dies noch ein Traum ist. ... Nun muss er nur noch Wirklichkeit werden".

„Die Welt“

"Dieser Papst greift weit und entschlossen aus, ein Reformator seiner Kirche will er sein. Nicht zufällig ist im Titel des Schreibens von der Freude des Evangeliums die Rede. Franziskus will eine fröhliche, anziehende, offene Kirche. Freilich, auch wenn in diesem Schreiben viel von sozialer Ungleichheit und der Vergötterung des Geldes die Rede ist, das regiert, statt zu dienen - Franziskus steht nicht für eine sozialpolitische Wendung der Kirche.

Wenn er von Armut und der Hinwendung zu den Armen redet, dann meint er auch die heutige Not, vor allem aber den spirituellen Ansatz des Heiligen, dessen Namen er als Papst annahm. Und schon ganz zu Anfang stellt er klar: Es geht ihm um Evangelisierung, um Missionierung. Also um eine Kirche, die ihren Kampf in dieser säkularisierten Welt nicht verloren gibt".

„Badische Zeitung“

Aus Sicht konservativer Hardliner sind dies bittere Pillen, die da verabreicht werden. Doch in Anbetracht der Machtfülle derjenigen, die sich nun um den Vorsitzenden der Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, sammeln, ist längst nicht ausgemacht, ob sich Franziskus mit seinem Erneuerungskurs durchsetzen wird. Der Papst hat sich in diesem Ringen nun unmissverständlich und klar positioniert. Er steht für eine Kirche der Armut und Bescheidenheit, die sich der Menschen annimmt und offen auf sie zugeht.

Geht es nach Franziskus, soll diese Kirche künftig deutlich pluralistischer werden - zu Lasten der Kurie und ihrer romzentristischen Ausrichtung. An ihrer Spitze steht ein Papst, der sich einmischt und Missstände anprangert. Ein Papst, der allerdings - darüber darf kein Zweifel aufkommen - fest auf dem Boden des Katechismus steht und grundlegende Glaubenssätze nicht antasten wird.

„Saarbrücker Zeitung“

Zwei Szenarien deuten sich an: Entweder verpuffen die Reformvorschläge des Papstes als hübsche Ideen. Die Enttäuschung vieler Katholiken auch in Deutschland wäre programmiert, ihr Eindruck eines weiterhin unbelehrbaren Vatikan würde bestärkt.

Im anderen Fall müsste sich Franziskus mit den Reform-Bremsern in Rom ernsthaft anlegen - ein energieraubendes Duell mit einer inneren Opposition wäre die Folge. Ob sich die Kräfteverhältnisse in Rom unter Franziskus tatsächlich ändern werden, muss sich noch zeigen. Auf der einen Seite steht ein 77 Jahre alter Pontifex. Auf der anderen aber sind die Ideologen einer in 2000 Jahren gewachsenen Doktrin versammelt.

religion.ORF.at/dpa/APA

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