Sunniten und Schiiten im Streit um den wahren Islam

Im Irak brechen die lange schwelenden Konflikte zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen auf. Ein Teil der unter Saddam Hussein privilegierten sunnitischen Minderheit hat sich radikalisiert.

Die sunnitische Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS) ist eine der radikalsten islamistischen Organisationen im Nahen Osten. Sie kämpft für einen sunnitischen Gottesstaat. In den vergangenen Jahren wurde die Gruppe stark, begünstigt durch den Abzug der US-Truppen aus dem Irak und das Sicherheitsvakuum während des syrischen Bürgerkriegs.

ISIS begann Anfang Juni damit, Städte im Irak zu erobern. Die Millionenstadt Mossul fiel in die Hände der sunnitischen Islamisten. Danach kämpften sie sich entlang des Flusses Tigris weiter in Richtung Bagdad vor. Die Mehrheit der sunnitischen Muslime distanziert sich von der radikalisierten Islamistengruppe.

Sunniten weltweit in der Überzahl

Bis zu zwei Drittel der gut 32 Millionen Iraker sind schiitische Muslime. Das ist global betrachtet die Ausnahme. Von den weltweit etwa 1,3 Milliarden bekennenden Muslimen sind rund 90 Prozent Sunniten. Nur in einigen wenigen Ländern stellen die Schiiten die Bevölkerungsmehrheit - im Iran, in Bahrain und eben im Irak. Die irakischen Schiiten leben vor allem südlich von Bagdad in den Städten Nadschaf und Kerbela. Die Sunniten leben vor allem in der Hauptstadt sowie in den Provinzen westlich und nördlich davon.

Freiwillige melden sich zur Unterstützung der irakischen Armee gegen ISIS

Reuters/Ahmed Saad

Die irakische Armee rekrutiert Freiwillige für den Kampf gegen ISIS

Streit um Nachfolge Mohammeds

Eine der Ursachen des heutigen Konflikts liegt in der unterschiedlichen Religionsauffassung. Eine Auseinandersetzung um die Nachfolge des Propheten Mohammed im siebenten Jahrhundert spaltete die Muslime in Schiiten und Sunniten.

Der schiitische Islam akzeptiert nur einen direkten Nachkommen von Ali ibn Abi Talib, dem Schwiegersohn Mohammeds. Dieser war vierter Kalif und gilt als erster legitimer Erbe des Propheten. Die Anhänger dieser Minderheit wurden „Schiat Ali“, Partei Alis, genannt, woraus sich die Bezeichnung Schiiten entwickelte. Die Sunniten hingegen wünschen sich als Nachfolger des Religionsstifters einen fähigen Heerführer aus Mohammeds Stamm, der durch einen Rat (Schura) bestätigt wird. Eine Erbfolge verlangen sie nicht. Der Begriff Sunniten leitet sich von der Sunna ab, den Überlieferungen des Propheten. Die Sunniten lehnen die Heiligenverehrung und den Märtyrerkult der Schiiten strikt ab.

Bereits kurz nach Mohammeds Tod war die muslimische Glaubensgemeinschaft darüber uneinig, wer dem Propheten als Führer der Gemeinde nachfolgen sollte. Die Mehrheit der Gemeindeältesten bestimmte schließlich Mohammeds Weggefährten und Schwiegervater Abu Bakr zum Nachfolger (Chalifa). Er war von 632 bis 634 der erste der „rechtgeleiteten Kalifen“. Doch schon zu Abu Bakrs Zeiten plädierten manche dafür, dass Mohammeds Cousin und Schwiegersohn Ali die Nachfolge des Propheten antreten solle. Aus dieser Gruppierung gingen die Schiiten hervor.

Langer Machtkampf im Irak

Nach wie vor ist es ebendieser Machtkampf zwischen den sunnitischen und schiitischen Muslimen im Land, der den Extremisten die Übernahme zahlreicher Landstriche überhaupt möglich machte. Die schnellen Erfolge der Terrorgruppe ISIS haben überrascht. Dabei hatte sich eine Eskalation schon lange angekündigt. Die Schuld daran finden viele vor allem bei Ministerpräsident Nuri al-Maliki selbst.

Maliki, der aus einer kleinen Ortschaft in der Nähe der Pilgerstadt Kerbela stammt, gehörte einst selbst zu den Diskriminierten. Seit seinem 18. Lebensjahr gehörte er der schiitischen Dawa-Partei an, deren Mitglieder unter Saddam Hussein gnadenlos verfolgt wurden. Nach Husseins Sturz kam der Schiit Maliki als Ministerpräsident gerade recht - allerdings betrieb er seit seinem Amtsantritt 2006 alles andere als eine Versöhnungspolitik. Dadurch fühlten sich nun wiederum die Sunniten zunehmend benachteiligt und diskriminiert. Nach dem Abzug der US-Truppen 2011 entbrannte der Machtkampf aufs Neue.

In den vergangenen Monaten eskalierte der Streit zwischen der von Schiiten dominierten Regierung und sunnitischen Parteien. Sunnitische Terrorgruppen wie ISIS kämpfen gegen Schiiten, die sie als „Abweichler“ von der wahren Lehre des Islams ansehen.

Ein Flüchtlingslager mit blauen Zelten 350 Kilometer von Bagdad entfernt

APA/AP

Viele Menschen fliehen vor der Gewalt

Annäherung zwischen USA und Iran

Eine unerwartete Annäherung bringt der Konflikt im Irak zwischen den USA und dem Iran. Historisch ist das Verhältnis der beiden Länder denkbar schlecht: Nachdem die US-Botschaft in Teheran im Zuge der Islamischen Revolution 1979 besetzt worden war, sorgten die USA für die internationale Ächtung des Iran. Im Iran wurde im Gegenzug ein extrem negatives USA-Bild lanciert, über Jahrzehnte hinweg war von den vereinigten Staaten als dem „Großen Satan“ die Rede. Nun gibt es, auch befeuert durch den schiitisch-sunnitischen Konflikt im Irak, wieder eine allmähliche Annäherung.

Ähnliche Konflikte in der Region

In Syrien herrscht ein ähnlicher Konflikt wie im Irak: Dort stellen Sunniten zwei Drittel der Bevölkerung. An ihrer Seite kämpft ISIS gegen die Truppen des Machthabers Baschar al-Assad. Auch im benachbarten Libanon sorgte in den vergangenen Jahren ein Machtkampf für zunehmende Instabilität. Auf der einen Seite stehen prosyrische Parteien wie die Schiiten-Miliz Hisbollah, die in Beirut in der Regierung sitzt und mit dem Assad-Regime verbündet ist. Ihnen gegenüber stehen westlich orientierte Bewegungen der Sunniten und maronitische Christen, die mehrheitlich die syrische Opposition unterstützen.

Nördlich der irakischen Hauptstadt Bagdad dauern die Gefechte zwischen dschihadistischen Milizen und kurdischen und irakischen Soldaten an. Die heutige irakische Hauptstadt Bagdad wurde im Jahr 762 als „Stadt des Friedens“ gegründet. Die damalige „runde Stadt“ mit Basaren, Bädern, Universität und Moscheen war in ihrer Hochzeit ein Zentrum der Politik, des Handels und der Gelehrsamkeit in der islamischen Welt. Spuren des alten Bagdads sind heute kaum noch erhalten.

religion.ORF.at/dpa/APA

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