Patriarch Sako: „Das ist die dunkelste Stunde des Irak“

Ein düsteres Bild der Zukunft des Irak hat der chaldäisch-katholische Patriarch Louis Rafael Sako I. gezeichnet. Er sehe kaum noch Hoffnung, dass der Irak als Gesamtstaat erhalten bleibt.

Die Zahl der Christen im Land werde weiter dramatisch schrumpfen, sagte Sako in einem Interview mit der Hilfsorganisation „Kirche in Not“ - von einst mehr als einer Million auf bald nur noch 50.000 Gläubige. Harte Kritik übte der Patriarch an der Politik des Westens und besonders an den USA, die an der jetzigen Situation schuld seien.

Zur Frage, ob die Mehrheit der arabischen Sunniten die islamistische Terrororganisation ISIS unterstütze, meinte der Patriarch: „Ja. Eindeutig. Sie teilen nicht unbedingt ihre Ideologie. Aber sie unterstützen das politische Ziel, das Regime zu wechseln und ihren eigenen Staat zu gründen. ISIS will einen islamischen Staat mit Ölquellen gründen, um die Welt zu islamisieren.“ Das sei eine Gefahr für die ganze Welt.

Chaldäisch-katholische Kirche

Die chaldäisch-katholische Kirche ist eine mit Rom unierte Ostkirche. Sie wurde gemäß Überlieferung im Jahr 52 vom Apostel Thomas gegründet. Nach dem Konzil Orthodoxie, seit dem 17. Jahrhundert ist sie Teil der römisch-katholischen Kirche. Louis Rafael Sako ist seit 2013 Patriarch. Bis vor wenigen Jahren lebten die meisten chaldäisch-katholischen Christen im Irak, inzwischen sind aber viele von ihnen emigriert.

Bischöfe derzeit „etwas ratlos“

Welche Folgen der Staatszerfall für die Christen im Irak hat, sei derzeit noch nicht absehbar. „Ehrlich gesagt sind wir Bischöfe zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas ratlos“, so Sako. „Möglicherweise liegt die Zukunft in Kurdistan. Viele Christen leben ja schon dort. Aber es gibt auch viele, die in Bagdad leben, manche auch in Basra im schiitischen Süden. Wir müssen die weitere Entwicklung abwarten.“

Es gebe bereits drei Fragmente des Irak, einen sunnitischen, kurdischen und schiitischen Teil. „Die Kurden haben ohnehin schon die Autonomie. Die Schiiten quasi auch. Die Sunniten folgen jetzt. Der Irak wird also geteilt werden“, so der Patriarch. „Wenn das so ist, dann ist es besser, sich zusammenzusetzen und einen Konsens zu finden, um weitere Kämpfe und den Verlust von Menschenleben zu vermeiden.“

Keine Christenverfolgung

Die derzeitige Situation sei die „dunkelste Stunde des Irak“ für alle seine Bewohner, nicht nur für die Christen. Es gebe keine dezidierte Christenverfolgung. So seien etwa viel mehr Muslime aus Mossul und Umgebung vor den ISIS-Terroristen geflüchtet. „Aber was uns große Sorge bereitet, ist, dass die Abwanderung der Christen aus dem Irak zunehmen wird. Wir verlieren unsere Gemeinde. Wenn das christliche Leben im Irak endet, dann ist unsere Geschichte unterbrochen“, sagte Sako. „Unsere Identität ist bedroht.“

Die Tragödie bestehe vor allem auch darin, dass viele Familien bereits geteilt seien. Die Kinder lebten schon im Westen und fragten ihre Eltern ständig, warum sie noch immer im Irak blieben und nicht nachkämen. „Diesen Trend kann man nicht stoppen. Das ist unmöglich“, so Sako wörtlich und weiter: „In zehn Jahren wird es vielleicht noch 50.000 Christen im Irak geben. Vor 2003 waren wir etwa 1,2 Millionen. Innerhalb von zehn Jahren sind wir auf vielleicht vier- bis fünfhunderttausend Gläubige geschrumpft. Genaue Zahlen haben wir aber keine.“

Chaldäischer Patriarch Louis Sako

APA/AP Photo/Hadi Mizban

Louis Rafael Sako

„Der Westen tut überhaupt nichts“

Die Christen im Westen seien „sehr schwach“, so der Patriarch. Zwar gebe es „gute Christen“, die die Iraker mit Gebeten und Geld unterstützten, ihr Einfluss sei aber zu gering. „Insgesamt tut der Westen überhaupt nichts. Wir sind sehr enttäuscht. Sie schauen unbeteiligt zu. Fußball interessiert dort mehr als die Lage hier oder in Syrien.“

Rufe nach einer neuerlichen militärischen Intervention der USA im Irak wies Sako allerdings zurück: „Die Amerikaner waren hier und haben viele Fehler gemacht. Die jetzige Lage ist ihre Schuld. Die Amerikaner haben einen Diktator abgesetzt. Aber wenigstens hatten wir damals unter Saddam Hussein Sicherheit und Arbeit. Und was haben wir jetzt? Konfusion, Anarchie und Chaos. Dasselbe ist in Libyen und Syrien geschehen.“

Wenn man eine Änderung der Situation im Irak wolle, dann müsse man die Menschen in den Schulen, Medien und Moscheen zu Freiheit, Demokratie und dem Aufbau des eigenen Landes erziehen. Eine Demokratie nach westlichem Vorbild könne im Land aber unmöglich eingesetzt werden. „Vielleicht brauchen wir im Nahen Osten in dem gegenwärtigen Kontext einen starken Führer, der aber gleichzeitig gerecht ist und nicht nur nach seiner Familie oder seinem Stamm schaut“, so Sako.

religion.ORF.at/KAP