Türkei: Erdogans Religionspolitik gewürdigt

Katholische, orthodoxe und armenische Christen in der Türkei haben im Blick auf den Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan die Religionspolitik des AKP-Politikers insgesamt vorsichtig gewürdigt.

Gleichzeitig wurden Bedenken über einen möglicherweise bevorstehenden „Putinismus“ geäußert. Der am 10. August gewählte neue Präsident der Türkei hat noch am Abend des Wahltags mit dem Gebet in einer Moschee Gott für sein ebenso hohes wie schweres Amt gedankt. Mit dieser öffentlich bekundeten religiösen Verbundenheit gleicht er seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin; beide werden auch sonst wegen ihres autoritären Führungsstils gern miteinander verglichen.

In einer ersten Stellungnahme unterstrich der wichtigste christliche Führer in der Türkei, Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel, sein gutes Verhältnis zu Erdogan. Dieser habe als Ministerpräsident eine positive Rolle für die Rückgabe von einem Teil des griechisch-orthodoxen Kirchenbesitzes gespielt, den seine Vorgänger beschlagnahmt hatten. Von Erdogan wurden darüber hinaus wichtige Schritte gesetzt zum Aufbau einer toleranteren Haltung der Türkei zum Ökumenischen Patriarchat der Orthodoxie sowie zu Christen, Juden und anderen Nicht-Muslimen überhaupt.

„Können uns nicht beklagen“

In einem Radio-Vatikan-Interview äußerte die Istanbuler katholische Pfarrgemeinderätin Annemarie Medovic ihre Einschätzung, „viel wird sich nicht ändern“ durch die Wahl am Sonntag. Bisher sei Erdogan Ministerpräsident, jetzt werde er eben Präsident. Trotz aller Einschränkungen und Hindernisse für die Kirchen in der Türkei „können wir uns nicht beklagen“, urteilte sie: „Wir können frei in die Kirche gehen, ich kann frei sagen, dass ich Christin bin.“

Zuversicht in Bezug auf Religionsfreiheit

Patriarch Bartholomaios bekundete sogar Zuversicht, dass Erdogans Präsidentschaft der Türkei eine Ära der Religionsfreiheit, der Achtung von Menschenrechten und -würde sowie des friedlichen Zusammenlebens ihrer Bewohner bringen könnte. Was eine Wiedereröffnung der schon seit 1971 durch den Staat geschlossenen Theologischen Hochschule von Chalki bei Istanbul angeht, so habe er von Erdogan zwar viele Versprechungen erhalten, so Bartholomaios. Die Frage bleibe aber weiter mit dem türkischen Anliegen der Errichtung einer Moschee in Athen verknüpft.

Das überraschend gute Abschneiden von Erdogans wichtigstem Gegenkandidaten Ekmeleddin Ihsanoglu, der auf 39 Prozent der Stimmen kam, brachte Bartholomaios mit einem Ausbrechen der diesen unterstützenden Republikanischen Volkspartei (CHP) aus ihrer bisherigen „nationalistischen Enge“ in Zusammenhang. Diese noch auf den Vater der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, zurückgehende Partei war zwar offiziell areligiös-„laizistisch“, drangsalierte aber die Christen und Juden.

Dabei war früher seitens der CHP allerdings nicht mit dem Koran argumentiert worden, sondern im „rassischen“ Sinn - man sprach von „untürkisch-artfremden Elementen“. Zuletzt habe die CHP, gerade in diesem Wahlkampf, „liberalere politische Positionen“ bezogen, so Bartholomaios.

Aleviten rückten von Erdogan ab

Mit dem starken Abschneiden Ihsanoglus und auch des dritten Bewerbers, des Kurden Salahattin Demirtas, die zusammen Erdogan fast um seine absolute Mehrheit gebracht hätten, beschäftigte sich am Motnag auch die Istanbuler armenische Zeitung „Agos“ („Furche“). Für sie hat dabei den Ausschlag gegeben, dass Erdogan die islamische Sonderkonfession der Aleviten nicht auf seine Seite bringen konnte. Er hatte diese innerliche Richtung mit ihrem recht lockeren Verhältnis zu den Satzungen des islamischen Religionsrechts und einer neueren Bindung an das linksprogressive politische Lager in der Türkei zunächst umworben.

Weil aber Erdogans groß angekündigtes „Demokratisierungspaket“ von 2013 den Aleviten überhaupt nicht entgegenkam, rückten diese erst recht vom Parteichef der islamisch-konservativen AKP ab. Im Ramadan im vergangenen Juli lehnten es alevitische Persönlichkeiten wiederholt ab, an von Erdogan präsidierten Iftar-Essen teilzunehmen. Am Vorabend der Präsidentenwahl gaben dann beide gesamttürkischen Dachverbände der Aleviten eine Stimmempfehlung zugunsten von Ihsanoglu ab.

Polit-islamischen Boden verlassen

Wenn auch Erdogan den Aleviten wenig entgegenkam, so hatte er doch bereits mitten im Wahlkampf den bisherigen polit-islamischen Boden verlassen. Beobachter sehen darin eine Folge des Bruchs mit seinem altgedienten ideologischen Mentor Fethullah Gülen und dessen reformislamischer Organisation Hizmet. In Wahlparolen, auf Spruchbändern und in den Reden Erdogans kam das Wort Islam fast gar nicht mehr vor. Umso öfter dafür „Milli“ (national), das überall und unaufhörlich zu lesen und zu hören war.

In den Kirchen wird dies als Öffnung registriert. Es gebe Raum für völlig neue politisch-ideologische Perspektiven, auch über Erdogan hinaus. In einer Türkei, die nicht mehr oder wenigstens nicht mehr so stark zwischen Ultranationalismus und Islamismus polarisiert sei, werde auch für Christen, Juden und andere ein besserer Platz sein, heißt es in Istanbul.

religion.ORF.at/KAP