Theologe: Wahabitische IS-Verurteilung enorm relevant

Die Brutalität der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bewirkt ein Umdenken auch in konservativen Kreisen des Islam: Davon ist der Wiener Religionspädagoge Mouhanad Khorchide, der an der Universität Münster lehrt, überzeugt.

Man komme zusehends zur Erkenntnis, dass eine allzu streng konservative Auslegung des Koran die Gewaltbereitschaft fördere, sagte der Theologe, Islamwissenschaftler und liberale Muslim Khorchide am Donnerstagabend in der ORF-Radiosendung „Religion aktuell“. Nie zuvor habe es Stimmen im wahabitischen Islam gegeben, die sich so deutlich von Gewalt distanziert hätten, sagte Khorchide. Vergangene Wochen hätten saudi-arabische Gelehrte die Terrormiliz in einem Rechtsgutachten verurteilt.

„Diese Fatwa hat eine enorm große Relevanz. Stellen Sie sich vor: Zum ersten Mal tun das wahabitische Gelehrte, und IS basiert auf einer wahabitischen Ideologie - sprich: einer sehr restriktiven Ideologie, die in Saudi-Arabien entstanden ist, im dortigen Islamverständnis des 18./19. Jahrhunderts. Und jetzt kommen die wahabitischen Gelehrten und distanzieren sich, zumindest von Konsequenzen dieser Ideologie.“

„Ein großer Bruch“

Khorchide erinnerte daran, dass 16 der Attentäter des 11. September 2001 aus Saudi-Arabien stammten, „und sie folgten der wahabitischen Ideologie“. Doch jetzt fingen die wahabitischen Autoritäten zum ersten Mal an, sich mit klaren Aussagen zu distanzieren, mit einer Fatwa gegen diesen sogenannten Islamischen Staat.

„Ich glaube, das ist ein großer Bruch in der Geschichte des Wahabismus. Dieser Wandel ist beachtlich. Ich sehe - als Prognose für die Zukunft -, dass immer mehr Muslime wachgerüttelt werden und merken: So können wir nicht weitermachen, irgend etwas läuft da schief, dass ausgerechnet im Namen des Islams so etwas Brutales passiert, wir müssen alles überdenken“, sagte Khorchide.

Sendungshinweis:

Khorchide: „Konservative Muslime denken um“ in „Religion aktuell“ zum Nachhören

Weltweit hatten Ende der Vorwoche mehr als 120 Islamgelehrte die Terrormiliz verurteilt. In einem 18-seitigen Schreiben legten sie dar, warum die Organisation in eklatantem Widerspruch zum Koran stehe. Zu den Unterzeichnern zählen der ägyptische Großmufti Schawki Ibrahim Allam und hohe Vertreter der Al-Azhar-Universität in Kairo, der Jerusalemer Mufti Muhammad Ahmad Hussein, der jordanische Prinz und Religionswissenschaftler Ghazi bin Muhammad sowie Gelehrte und Geistliche aus den Golfstaaten, Nordafrika, Asien, Europa und den USA.

Islamgelehrte fordern Schutz von Christen

Das namentlich an den IS-Führer Abu Bakr Al-Baghdadi gerichtete Schreiben spricht den Islamisten die Kompetenz für Religionsurteile ab. Die Ausrufung eines Kalifats sei unzulässig. Unter den 24 Punkten des Dokuments bekräftigen die Gelehrten den vom Koran geforderten Schutz von Christen und anderen religiösen Minderheiten. Akte wie Folter und Leichenschändung, Versklavung, Zwangsbekehrungen und Unterdrückung von Frauen seien im Islam verboten.

Ausdrücklich verurteilt das Schreiben auch die Ermordung von Journalisten und humanitären Helfern als Verstoß gegen die Glaubenslehre. Der Dschihad wird als reiner „Verteidigungskrieg“ beschrieben. Ein bewaffneter Aufstand sei aus Sicht des Islam nur dann legitim, wenn es um Widerstand gegen massive religiöse Unterdrückung gehe. Demgegenüber kenne der Islam eine Pluralität von Lehrmeinungen. Die Auslegung der religiösen Lehre müsse zeitgemäß erfolgen.

Punkt-für-Punkt-Widerlegung der IS-Philosophie

Der Brief in arabischer Sprache, der auch in einer englischen Übersetzung im Internet unter www.lettertobaghdadi.com dokumentiert wird, ist in einer theologisch-technischen Fachsprache gehalten. Das Schreiben benutze jene klassischen islamischen Quellen, die auch von IS benutzt würden, um Nachfolger anzuwerben, sagte der Leiter des Rats für Amerikanisch-Islamische Beziehungen, Nihad Awad, dessen Institution in Washington das Dokument verbreitete.

Der Text sei nicht für das breite Publikum bestimmt, sagte Awad dem US-Pressedienst Religion News Service. Sogar gewöhnliche Muslime hätten möglicherweise Probleme, ihn zu verstehen. Es handle sich um eine Punkt-für-Punkt-Widerlegung der IS-Philosophie. Selbst die Bezeichnung „Islamischer Staat“ wird in dem Dokument stets in Anführungszeichen gesetzt. Die Unterzeichner rieten davon ab, diesen Begriff zu verwenden, weil er bereits einen falschen Anspruch vertrete.

religion.ORF.at/KAP

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