Türkei: Erdogan für Pflichtfach „Sunnitische Religion“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), islamisch-sunnitischen Religionsunterricht als Pflichtfach zu streichen, zurückgewiesen.

Wenn der verpflichtende Islamunterricht als Pflichtfach in den Lehrplänen an türkischen Schulen abgeschafft werde, werde „die Lücke von Drogen, Abhängigkeit und Gewalt gefüllt“, sagte Erdogan nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Anadolu vom Montag. Der EGMR in Straßburg hatte die Türkei in einem Urteil Mitte September aufgerufen, den Schülern im Land die Möglichkeit zu geben, sich vom bisherigen Pflichtfach Religion befreien zu lassen, ohne dass die Eltern ihre Religionszugehörigkeit offenlegen müssten. Der Staat müsse in religiösen Dingen neutral bleiben.

EGMR-Urteil soll geprüft werden

Die Entscheidung fiel nach einer Klage alevitischer Türken, die ihre Kinder nicht mehr in den bisher sunnitisch geprägten Religionsunterricht schicken wollen. Als Mitglied des Europarates ist die Türkei an die Entscheidungen aus Straßburg gebunden. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hatte eine Prüfung des Urteils zugesagt, zugleich aber betont, selbst Atheisten müssten über religiöse Kenntnisse verfügen. Konkrete Pläne zu einer Umsetzung der Entscheidung sind bisher nicht bekannt.

Recep Tayyip Erdogan

APA/EPA/Justin Lane

Recep Tayyip Erdogan

Unter dem derzeitigen System können sich nur Schüler der anerkannten Minderheiten der Juden, Armenier und Griechen vom staatlichen Religionsunterricht befreien lassen. Die Aleviten, Anhänger einer liberalen Spielart des Islam, müssen dagegen am herkömmlichen Religionsunterricht teilnehmen.

Human Rights Watch besorgt

Besorgt über die Menschenrechtslage in der Türkei äußerte sich indes die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Nach ihrem Urteil werden Menschenrechte in der Türkei immer stärker zurückgedrängt. In einem am Montag veröffentlichten Bericht wirft die Menschenrechtsorganisation der AKP-Regierung vor, die Rechtsstaatlichkeit zu schwächen, Medien und das Internet zu kontrollieren und hart gegen Kritiker und Demonstranten durchzugreifen.

Die Regierung müsse „einen anderen Kurs wählen und das Recht schützen, anstatt es anzugreifen“, erklärte Emma Sinclair-Webb, Türkei-Expertin von HRW und Verfasserin des Berichts „Turkey’s Human Rights Rollback“. Nötig seien eine Stärkung der Menschenrechte im Friedensprozess mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Reformen des Strafrechtssystems sowie ein Ende der Straffreiheit für Vergehen durch Staatsvertreter. Zudem solle häusliche Gewalt gegen Frauen geahndet und volle Redefreiheit auch in Medien und dem Internet gewährt werden, inklusive Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.

Der Bericht verweist auf das gewaltsame Vorgehen von Sicherheitskräften gegen Proteste auf dem Istanbuler Gezi-Platz und in anderen Städten im Mai und Juni 2013 sowie auf einen im Dezember 2013 publik gewordenen Korruptionsfall, der in hohe Regierungskreise reicht. HRW kritisiert die Antwort der Regierung darauf. Sie habe mit neuen Gesetzen die Unabhängigkeit des Justizapparats eingeschränkt und teils durch Versetzung von Richtern, Staatsanwälten und Polizisten Ermittlungen behindert.

Einhaltung der Menschenrechte für Friedensprozesse

Weiter erinnert HRW an die Verschärfung des ohnehin restriktiven Internetgesetzes und der Zensur im Internet, etwa mit größeren Überwachungsmöglichkeiten durch den Geheimdienst MIT, uneingeschränktem Datenzugang für den Staat und schärferen Strafen für Whistleblower sowie investigative Journalisten.

Auch der im Anfang befindliche Friedensprozess mit der PKK stehe auf dem Spiel. „Die Erfolgsaussichten für den Friedensprozess mit den Kurden sind am größten, wenn die Menschenrechte geschützt werden und eine für alle geltende Rechtsstaatlichkeit gestärkt wird“, sagte Sinclair-Webb.

religion.ORF.at/KAP