Carl Lutz: Der vergessene Held

Mit einem Dokumentarfilm von Daniel von Aarburg ehrt das Jüdische Filmfestival Wien den Schweizer Diplomaten Carl Lutz, der rund 60.000 Juden vor Deportation, KZ und Tod gerettet hat.

„Zivilcourage“ ist einer der Schwerpunkte im Programm des diesjährigen jüdischen Filmfestivals. Vor 40 Jahren, am 9. Oktober 1974, starb Oskar Schindler, der etwa 1200 Juden retten konnte. Steven Spielberg hat ihm mit seinem Film „Schindlers Liste“ ein Denkmal gesetzt.

Logo "Shalom Oida"

.

Jüdisches Filmfestival Wien
religion.ORF.at begleitet das Jüdische Filmfestival Wien als Medienpartner und berichtet über ausgewählte Programmpunkte.

Zur Übersicht

Der mutige Einsatz des Konsuls Carl Lutz in Budapest hingegen ist einer breiteren Öffentlichkeit bisher kaum bekannt. Die sorgfältig recherchierte und einfühlsam erzählte Dokumentation könnte das ändern.
Carl Lutz war zunächst in Palästina eingesetzt und vertrat nach dem Kriegsausbruch 1939 neben den Agenden seines Heimatlandes auch die deutschen Interessen gegenüber England. Er kümmerte sich um deutsche Internierte, organisierte die Repatriierung deutscher Diplomaten. Das brachte ihm Lob von höchster Stelle ein.

Nach Budapest versetzt, wurde Lutz zu einer zentralen Figur der Diplomatie, denn er vertrat als Leiter des „Amtes für fremde Interessen“ neben der Schweiz zwölf alliierte Kriegsgegner Deutschlands.
Für die Juden war Ungarn zunächst lange ein sicherer Hafen, denn das Regime unter Miklós Horthy hielt seine schützende Hand über sie. Erst gegen Kriegsende, 1944, geriet Horthy unter den Druck Hitlers, er solle sich mehr für die „Endlösung“, also die Judenvernichtung einsetzen. Der Holocaust erreichte Ungarn. Jetzt soll alles schnell gehen. „Nach den schweren Verlusten an der Ostfront sollten wenigstens die Siege gegen die Juden gesichert sein“, berichtet ein Zeitzeuge. Adolf Eichmann kam selbst nach Budapest, um die Transporte nach Auschwitz zu organisieren. Aus der ungarischen Provinz wurden in nur drei Monaten weit über 400.000 Menschen deportiert, ihr Hab und Gut konfisziert.

Carl Lutz

Marco Barberi

Insgesamt sollen es an die 62.000 ungarische Juden gewesen sein, die Lutz durch Schutzbriefe und gefälschte Pässe vor der sicheren Deportation bewahrt hat

Schutzbriefe gegen die Verfolgung

Nachdem zwei Slowaken die Flucht aus dem KZ gelungen war, berichteten sie detailliert über die Vorgänge in Auschwitz. Ihre „Auschwitz-Protokolle“ landeten sehr schnell auf dem Schreibtisch von Carl Lutz. Er beschloss zu handeln.

Der Konsul verschafft sich von den Briten ein „Ausreisekontingent“ für 8000 Juden, also eine Erlaubnis, nach Palästina auszureisen. Dann sprach Lutz direkt bei Adolf Eichmann vor. Dieser leitete die Anfrage an Himmler weiter. Direkt aus dem Führer-Hauptquartier kam die schließlich die Anweisung, man solle dem Mann, der sich in Palästina so für Deutschland eingesetzt habe, seinen Wunsch erfüllen.
Carl Lutz legte sofort Massenpässe für je 1000 Personen an und stellt Schutzbriefe für jede einzelne Person aus. Als das Kontingent erfüllt war, machte er weiter, indem er für jedes ausgestellte Dokument irgendeine unter 8000 liegende Zahl verwendete.
Der Andrang um diese Dokumente, die über Tod und Leben entscheiden konnten, war enorm. Im „Glashaus“, einer alten Fabrik, wurden sie ausgegeben.

Unüberwindbares Trauma

Bald begannen zionistische Organisationen, die Schweizer Schutzbriefe zu kopieren. Am 15. Oktober 1944 hielt Horthy eine Rede, in der er ankündigte, Budapest kampflos der Roten Armee überlassen zu wollen. Die Freude der Juden und aller, die das Kriegsende herbeisehnten, war aber verfrüht. Mit Ferenc Szálasi kamen die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler an die Macht, die mit neuer Grausamkeit – darunter Massenerschießungen an der Donau - gegen die Juden vorgingen. Carl Lutz stellte ganze Wohnblocks unter seinen diplomatischen Schutz. Sie boten Tausenden Juden relative Sicherheit.

Eines Nachts trieben die Pfeilkreuzler etwa 6000 Juden in einer Ziegelfabrik zusammen. Viele von ihnen wiesen Schutzbriefe vor. Mitten in der Nacht wurde Carl Lutz aus dem Bett geholt. Er musste an Ort und Stelle überprüfen, welche Schutzbriefe echt und welche gefälscht waren. Dass er damit auch manche Menschen in den sicheren Tod stoßen musste, wurde für ihn zu einem Trauma, das er zeitlebens nicht verwunden hat.

Zeitzeugen im Film

Daniel Aarburg hat für seine Dokumentation mit zahlreichen Menschen gesprochen, die dem mutigen Einschreiten des Schweizer Diplomaten ihr Leben verdanken. Sie verleihen den Fakten Gesichter und bringen die Ereignisse nahe. Unter den Zeitzeugen im Film sind etwa die Budapester Philosophin Agnes Heller, der Schriftsteller György Konrad oder der bekannte österreichische Publizist Paul Lendvai. Dem Regisseur stand zudem eine reichhaltige Sammlung von auf Fotos und Filmausschnitten zur Verfügung, die der passionierte Fotograf und Filmer Carl Lutz selbst gemacht hat.
Nach der Vorführung ist ein Gespräch mit der Carl-Lutz-Stieftochter Agnes Hirschi, mit Paul Lendvai und mit Regisseur Daniel von Aarenburg geplant.

Adolf Eichmann spottete über Carl Lutz, er sei ein Moses, der seine Leute durch das Rote Meer führen wollte. Das war zynisch gemeint und ist trotzdem gar kein so schlechter Vergleich. Die Vorgesetzten in der Schweiz hatten mit der Initiative ihres Diplomaten wenig Freude. Sie warfen ihm Kompetenzüberschreitung vor.

Christian Rathner, religion.ORF.at

Außerdem am Do., 9. Oktober 2014

Hitler’s Reign of Terror
1934 kam in den USA ein Film ins Kino, der als der erste amerikanische Anti-Nazi- Film in die Geschichte eingehen sollte: „Hitler‘s Reign of Terror“. Ihm war aber nur ein kurzes Dasein beschert: Die deutsche Botschaft forderte vehement, dass der Film aus den Kinos verschwinden solle.
Dokumentarfilm, 55 Minuten, engl. OF, 12.00 Uhr, Votivkino (geschlossene Sondervorstellung für Schüler)

Carl Lutz – Der vergessene Held
Der Schriftsteller György Konrad, die Philosophin Agnes Heller, der Publizist Paul Lendvai – sie und viele andere konnten durch das Engagement des Schweizer Diplomaten Carl Lutz in Budapest während des Zweiten Weltkriegs gerettet werden. Insgesamt sollen es an die 62.000 ungarische Juden gewesen sein, die Lutz durch Schutzbriefe und gefälschte Pässe vor der sicheren Deportation bewahrt hat.
Österreich-Premiere in Anwesenheit von Daniel von Aarburg (Regisseur), Paul Lendvai und Agnes Hirschi (Stieftochter von Carl Lutz.
Dokumentarfilm, 91 Minuten, dt. OF, 18.15 Uhr Votivkino

Schindler’s List
Liam Neeson spielt den Bonvivant, Charmeur und deutschen Unternehmer Oskar Schindler, der sich im Zweiten Weltkrieg für das Leben seiner jüdischen MitarbeiterInnen stark macht und mehr als eintausend vor der Deportation und dem sicheren Tod rettet.
Spielfilm, 195 Minuten, engl. OF mit dt. Ut, 20.30 Uhr Votivkino

Links: