Jüdisches Filmfestival: Israels Geheimdienst im Fokus

Zwei Filme über Israels mächtigen Inlandsgeheimdienst stehen heute auf dem Programm des jüdischen Filmfestivals in Wien. Der Spielfilm „Bethlehem“ und die Dokumentation „Gatekeepers“.

Sanfur, ein junger Bursche aus Bethlehem, will in dem gleichnamigen Film seinen Kameraden beweisen, dass er ein richtiger Kerl ist. Er zieht eine alte schusssichere Weste an und will mit ihrer Hilfe einen Schuss aus einer Kalaschnikow überstehen. Sanfur ist 15. Er ist der Nachzügler in der Familie, mit einem Vater im Großvater-Alter. So ist es einem jüngeren Mann namens Razi gelungen, in Sanfurs Leben quasi die Rolle des Vaters einzunehmen.

Razi spricht perfekt Arabisch, aber er ist Israeli und arbeitet für den auf Terrorismusbekämpfung spezialisierten Inlandsgeheimdienst Schin Bet. Er lebt mit seiner Familie in Jerusalem. Und er verwendet Sanfur als wichtige Quelle. Denn der viel ältere Bruder Sanfurs ist der von den Israelis gefürchtete Chef der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden.

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Jüdisches Filmfestival Wien
religion.ORF.at begleitet das Jüdische Filmfestival Wien als Medienpartner und berichtet über ausgewählte Programmpunkte.

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Keine Sieger

„Betlehem“ ist der Kino-Erstling des israelischen Regisseurs Yuval Adler. Die beklemmende Authentizität, mit der der Streifen vom Anfang bis zum Ende in Bann schlägt, ist die Frucht einer vierjährigen Arbeit am Drehbuch, das mehrere Fassungen erlebt hat, bevor man an die Umsetzung ging. Drehbuch-Ko-Autor war Ali Wakad, der damals für „Ynet“, das Nachrichtenportal der Tel Aviver Tageszeitung Yedioth Ahronot über palästinensische Themen berichtete. Viele Einzelheiten des Films basieren daher auf realen Ereignissen.

In den Hauptrollen sind ausschließlich Laiendarsteller zu sehen. Allen gemeinsam gelingt es, eine Realität darzustellen, in der es keine Gewinner gibt. Jeder benützt den Anderen, jeder hat Angst vor dem Anderen. Vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts zur Zeit der zweiten Intifada wird auch die Rivalität zwischen den Al Aqsa-Brigaden und der Hamas beleuchtet – mit einem beinahe komischen Höhepunkt, als die beiden Terrorgruppen um den Leichnam eines gefallenen Märtyrers streiten. Dazu kommen massive Spannungen zwischen Kämpfern und der palästinensischen Autonomiebehörde sowie Streitigkeiten innerhalb der jeweiligen Kampfverbände, die bisweilen ebenso blutig ausgetragen werden.

Menschliches im Spitzel-Netz

Yuval Adler hat sich die Arbeit des Geheimdienstes mit seinem Netz aus Informanten zum Thema gemacht. Dabei interessieren ihn vor allem die menschlichen Beziehungen, die zwischen den Spitzeln und ihren Kontaktleuten entstehen. Ohne diese menschliche Komponente, erzählt er in einem Interview, wäre es sehr schwer, den Informanten Brauchbares zu entlocken.

Der Film ist in Israel auf Kritik von links gestoßen. Der bekannte Journalist Gideon Levy warf Yuval Adler in der Tageszeitung „Haaretz“ vor, er habe eine Art Spaghetti-Western gedreht und dabei Schwarz-Weiß-Malerei betrieben. „Gute Israelis“ kämpften gegen „böse Palästinenser“. Doch diese Kritik greift zu kurz. Viel eher beschreibt der Film die Aussichtslosigkeit der Lage für beide Seiten. Auch wenn in diesem Spiel menschliche Regungen aufkeimen: Sie können die Spielregeln nicht ändern und sind machtlos gegen die übergeordnete Logik der Gewalt.

Der 15-jährige Sanfur

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Der 15-jährige Sanfur

Coming of Age

In diesem Umfeld ist es für einen 15-Jährigen schwer, seinen Weg zu finden. Er will seinem väterlichen Freund aus Israel helfen und gleichzeitig seinem Bruder treu sein. Er will für seine Familie einstehen und für sein Land kämpfen – und dabei die Privilegien nicht aufgeben, die ihm seine Spitzeltätigkeit einbringen.

„Betlehem“ ist in diesem Sinne auch ein Coming-of-Age-Film, das Drama eines Erwachsen-Werdens im dauernden Loyalitäts-Dilemma. Mit einer ständigen Tapferkeits-Forderung, die bis zum Vatermord führt. Der Film hinterlässt traurig, wütend, ratlos. Das dürfte auch die Gemütslage gewesen sein, aus der er entstanden ist. Das Experiment mit der schusssicheren Weste geht übrigens schief. Sanfur wird schwer verletzt. Auch wenn er es sich wünschen würde: In diesem ewigen Spiel der Waffen und der Lügen ist keiner unverwundbar.

Herren über Leben und Tod

Im Anschluss an „Betlehem“ beleuchtet die Dokumentation „Gatekeepers“ von Dror Moreh die Aktivitäten des Geheimdienstes Schin Bet aus Insider-Sicht. Moreh ist es gelungen, sechs ehemalige Chefs der Organisation zum Interview zu bitten. Der Film ist ein Durchgang durch die israelische Zeitgeschichte, mit vielen Archiv-Bildern, die man in Europa so noch nicht gesehen hat.

Wer erwartet, in dem Film fanatischen Verteidigern ihrer Regierungen zu begegnen, wird bald eines Besseren belehrt. Yuval Diskin, Avram Shalom, Avi Dichter, Yaacov Peri, Carmi Gillon und Ami Ajalon nehmen sich kein Blatt vor den Mund und zeigen sich als mitunter scharfe Kritiker der israelischen Politik. Was diese Kritik so einmalig und den Film so spannend macht: Diese Männer wissen genau, wovon sie reden.

Tyrann in Hosenträgern

Es gibt Momente, in denen das Herz gefrieren möchte. Etwa wenn Avram Shalom von dem Einsatz berichtet, der ihn das Amt gekostet hat. Shalom sieht aus wie ein freundlicher Großvater, der aus seinem bewegten Leben erzählt; seine roten Hosenträger tragen nicht unwesentlich zur gemütlichen Atmosphäre bei. Aber es wird wohl etwas dran sein, wenn er von seinen jüngeren Kollegen rückblickend als „Tyrann“ beschrieben wird.

„Wenn ihm etwas nicht gefiel, rollten die Köpfe“, sagt Yuval Diskin über ihn. Nach der Entführung eines Autobusses ordnete Shalom an Ort und Stelle die Tötung der bereits verhafteten und wehrlosen Terroristen an. Begründung: „Ich wollte keine lebenden Terroristen vor Gericht.“ Dror Moreh fragt nach der Moral. Shalom antwortet: „Beim Terrorismus gibt es keine Moral.“

Ex-Geheimdienstchef Yuval Diskin

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In „Gatekeepers“ stehen Yuval Diskin und fünf weitere Ex-Chefs des israelischen Geheimdienstes Schin Bet Rede und Antwort

In Sekunden entscheiden die Schin-Bet-Chefs über Leben und Tod, vor allem wenn es um die gezielte Tötung von Terrorismus-Verdächtigen geht. Gleich zu Beginn des Filmes schildert Yuval Diskin, was in einem Menschen vorgeht, der das Lebensende eines anderen in der Hand hat. Selbst wenn sichergestellt ist, dass außer dem „Target“, dem menschlichen Ziel der Operation niemand zu Schaden kommt: „Es ist eine unnatürliche Situation, so viel Macht zu haben.“ Damit ist der Film auf Schiene. Hier sprechen Menschen, die sich in einem schmutzigen Konflikt die Hände schmutzig gemacht haben, aber ihre Fähigkeit zur Reflexion und ihre Distanz zu den politischen Entscheidungsträgern bewahrt haben.

Keine Alternative zum Gespräch

Auch Avram Shalom, der in der Reihe der Interviewpartner als Hardliner erscheint, ist mit dem Status Quo keineswegs einverstanden. Ganz im Gegenteil. Er plädiert dafür, mit allen zu reden. Auch mit der Hamas. „Es gibt keine Alternative.“ Ohne eine Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern erscheint ihm die Zukunft düster. „Wir sind grausam geworden – uns selbst gegenüber, aber vor allem gegenüber der Bevölkerung in den besetzten Gebieten.“ Shalom, ein gebürtiger Wiener, ist im Juni dieses Jahres gestorben.

Einen dramatischen Höhepunkt steuert der Film an, wenn die Schin-Bet-Leute über die Entdeckung einer israelischen Untergrundorganisation berichten. Der Geheimdienst war auf die Verschwörung aufmerksam geworden, überwachte deren Mitglieder und vereitelte einen gigantischen Bombenanschlag gegen palästinensische Zivilisten. Sogar die Sprengung des Felsendomes sei geplant gewesen, berichtet Yuval Diskin – mit unabsehbaren Folgen.

Die Verantwortlichen mussten vor Gericht und fassten Gefängnisstrafen aus, wurden aber bald danach begnadigt. Die Enttäuschung darüber ist den Schin-Bet-Verantwortlichen ins Gesicht geschrieben. Sie wird noch deutlicher, wenn über die Ermordung von Premierminister Jitzchak Rabin berichtet wird. Der damalige Chef, Carmi Gillon, erzählt, die Bedrohung sei in der Luft gelegen. Er habe Rabin gebeten, eine kugelsichere Weste zu tragen und in einem gepanzerten Fahrzeug zu fahren. Dieser habe als alter Soldat aber abgelehnt. Am 4. November 1995 wurde er von einem jungen Fanatiker erschossen. Trotz aller geheimdienstlicher Aktivitäten hatte ihn der Schin Bet nicht auf dem Radar gehabt.

Keine Chance auf Frieden?

Mit Rabin starb in der Wahrnehmung der Schin-Bet-Chefs der Friedensprozess. Yuval Diskin sagt: „Rabins Ermordung zerstörte jede Hoffnung. Sie zeigte sehr klar, dass irgendein Idiot von einem Attentäter den ganzen Friedensprozess eliminieren kann.“ Und Ami Ajalon räsoniert: „Ich sah plötzlich ein anderes Israel. Die Intensität des Hasses, die Kluft zwischen uns waren mir nicht bewusst gewesen. Wie sehen wir unsere Zukunft? Was haben wir gemeinsam? Warum sind wir hierher gekommen? Was wollen wir werden? Alles fiel auseinander.“

„Gatekeepers“ verstört, wenn er im Detail miterleben lässt, wie Jagd auf Menschen gemacht wird, als wäre alles nur ein großes Computerspiel. Aber die Offenheit der einst mächtigen Männer ist erstaunlich. Man wünscht nichts sehnlicher, als dass ihnen in Israel auch Gehör geschenkt würde. „Wir müssen einsehen, dass wir in einer frustrierenden Lage sind“, sagt Avalon: „Wir gewinnen jede Schlacht, aber wir verlieren den Krieg.“ Es ist eine schier ausweglose Pattsituation: „Wir wollten Sicherheit und bekamen noch mehr Krieg. Sie wollten einen Staat und bekamen noch mehr Siedlungen.“

Wertvolles Zeitdokument

Dror Morehs Film, der 2013 für den Auslands-Oscar nominiert war, ist ein Zeitdokument von unschätzbarem Wert. Nicht im Gespräch mit Friedensaktivisten, sondern mit den „Torwächtern“, denen die Sicherheit ihres Landes über alles gehen musste, macht die Dokumentation deutlich, wie dringend notwendig eine Friedensvereinbarung für alle Beteiligten wäre. Freilich: Wie die derzeitige Geheimdienstführung denkt, bleibt im Verborgenen. Und ob und wie laut die sechs Gesprächspartner Morehs ihre liberalen Ideen schon im Dienst vertreten haben, ist ebenso fraglich.

„Du klopfst mitten in der Nacht an die Tür und findest die Familie im Bett“, schildert Yaacov Peri. „Du siehst die Tränen in den Augen der Mutter und die Verabschiedung des Verdächtigen, den du aus der Umarmung seiner Familie reißt. Das ist nicht einfach. Diese Momente ätzen sich tief in dich ein. Und wenn du zurücktrittst, rückst du ein bisschen nach links.“

Christian Rathner, religion.ORF.at

Heute, Dienstag, 21. Oktober:

Carl Lutz - Der vergessene Held
Der Schriftsteller György Konrad, die Philosophin Agnes Heller, der Publizist Paul Lendvai – sie und viele andere konnten durch das Engagement des Schweizer Diplomaten Carl Lutz in Budapest während des Zweiten Weltkriegs gerettet werden. Insgesamt sollen es an die 62.000 ungarische Juden gewesen sein, die Lutz durch Schutzbriefe und gefälschte Pässe vor der sicheren Deportation bewahrt hat. Von der offiziellen Schweiz wurde Lutz erst nach seinem Tod gewürdigt. Daniel von Aarburg zeichnet mittels zahlreicher Archivaufnahmen ein Portrait des „vergessenen Helden“ und lässt Zeitzeugen – darunter einige der geretteten Juden sowie Carl Lutz‘ Stieftochter – zu Wort kommen.
Dokumentarfilm, 91 Minuten, dt. OF
16.30 Uhr, De France

Bethlehem
Spielfilm, 99 Minuten, hebr. OF mit dt. Ut
18.30 Uhr, De France

Gatekeepers
Dokumentarfilm, 101 Minuten, hebr. OF mit engl. Ut
20.30 Uhr, Votivkino
Im Anschluss an die Vorführung spricht Renata Schmidtkunz mit Dror Moreh.