Judas: Ein Verräter, der keiner war

Judas Ischariot gehört zu den dunkelsten Gestalten in der Bibel oder wird so dargestellt. Geldgierig und egoistisch, soll er für 30 Silbermünzen Jesus an die Hohepriester verraten haben. Manche sehen diesen „Verrat“ anders.

Der israelische Schriftsteller Amos Oz, von dem gerade ein neuer Roman mit dem Titel „Judas“ erschienen ist, hegt Zweifel an der These. Für Oz klingt die Verratsgeschichte unglaubwürdig und hat auch mit dem Ursprung des Antisemitismus zu tun. In einem Interview mit der deutschen „Welt“ bezeichnete Oz Judas als Verkörperung des „Tschernobyl des Antisemitismus“. Und er stellt die Frage, warum Judas Jesus durch einen Kuss identifizieren musste, wenn doch ganz Jerusalem gewusst habe, wie Jesus aussah, nachdem er dort gepredigt hatte.

Skulptur von Ignazio Jacometti: Jesus und Judas

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Judas küsst Jesus: Skulptur von Ignazio Jacometti (1819-1883)

Ähnlich sieht es der katholische Theologe Wolfgang Treitler von der Universität Wien. Er stellt gegenüber dem Ö1-Religionsjournalisten Andreas Mittendorfer in der Sendung „Erfüllte Zeit“ das herkömmliche Bild von Judas gänzlich auf den Kopf. Treitler glaubt nicht, dass Judas - wie es in der Bibel steht - Jesus verraten hat, sondern dass er vielmehr einer der engen Anhänger Jesu war, mit ganz großen Erwartungen an ihn.

Treitler: Texte neu lesen

Er sei sich bewusst, dass er mit seinen Ansichten unter den christlichen Theologen, was Judas angeht, nach wie vor eine Minderheitenposition vertrete, sagt Treitler. Zugleich möchte er dazu ermutigen, die bekannten Schriftstellen neu zu lesen - eine Herangehensweise, die auch dem Dialog zwischen Christen und Juden dienen könne, ist der katholische Theologe überzeugt.

Der katholische Theologe Wolfgang Treitler

Wolfgang Treitler

Wolfgang Treitler

Die Bibel berichtet, dass Judas Jesus verrät - für 30 Silbermünzen. Treitler ist zwar „ziemlich sicher“, dass es Judas historisch betrachtet gegeben hat, die Geschichte, dass Judas Jesus verraten und, wie es heißt, an die Hohepriester ausgeliefert habe, die ihn dann an die Römer auslieferten, hat für den Theologen relativ wenig mit dem historischen Kern zu tun.

Ursprung des kirchlichen Antijudaismus

Wie auch andere Theologen glaubt Treitler, dass diese Erzählung des Verrats erst in den Text aufgenommen wurde, als die Evangelien aufgeschrieben wurden, also um das Jahr 70 nach Christus. Damals habe sich, auch in den Evangelien sichtbar, die Ansicht durchgesetzt, dass nicht die Römer für den Tod Jesu verantwortlich gewesen seien, sondern ausschließlich Juden. Judas habe allein aufgrund seines Namens (hebräisch: Jehuda) „gut dazugepasst“ und sei zum „personifizierten Juden“ geworden, dem alles, was mit dem Tod und der Hinrichtung Jesu zu tun hat, angehängt worden sei, so Treitler.

Über die Figur des Judas sei so ein kirchlicher Antijudaismus hervorgebracht worden, der über die Jahrhunderte zum Teil stark gewirkt habe. „Im zweiten Jahrhundert gab es den Vorwurf, dass die Juden das Volk der Gottesmörder sind“, was zu Zerstörungen von Synagogen als „Höllen des Satans“ geführt habe. Der Antisemitismus unserer Tage hat wohl hier seine Wurzeln.

War Judas-Kuss Messias-Kuss?

Die Schlüsselszene, die in den Evangelien vorkommt, ist jene im Garten Gethsemane, als Judas Jesus durch einen Kuss verrät. Wörtlich heißt es bei Matthäus: „Der Verräter hatte mit ihnen ein Zeichen vereinbart und gesagt: Nehmt den fest, den ich küssen werde; er ist es. Sogleich ging er auf Jesus zu und sagte: Sei gegrüßt, Rabbi! Und er küsste ihn. Jesus erwiderte ihm: Freund, tu, wozu du gekommen bist!“

Treitler schließt nicht aus, dass es einen Judas-Kuss auch tatsächlich gegeben habe, meint aber, dass Judas Jesus damit nicht verraten wollte, sondern dass er ihn vielmehr dazu bewegen wollte, sich als Messias zu erkennen zu geben - als Zeichen dafür habe es in der jüdischen Tradition damals eben den Kuss gegeben, der auch Messias-Kuss genannt worden sei.

Jesus und Judas. Gemälde aus dem 12. Jahrhundert, Urheber unbekannt

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Darstellung des Judas-Kusses aus dem 12. Jahrhundert (Künstler unbekannt)

Im Gespräch mit dem ORF-Radio kann sich Treitler vorstellen, dass Judas einer der Jünger war, die am stärksten hofften, dass Jesus der Messias sei. Doch Jesus stellte sich eben nicht als der von Judas erhoffte Messias heraus, der Israel von der römischen Herrschaft befreien würde - für Judas eine bittere Enttäuschung und in der Folge Perspektivenlosigkeit. In diesem Zusammenhang sieht der Theologe auch das tragische Ende des Judas - seinen Suizid. „Welche Perspektive hat ein Mann, der alle Hoffnungen und Erwartungen auf Jesus setzt, dem dieser aber im entscheidenden Moment dann nicht als Messias begegnet?“, so Treitler.

Kein Sinn im Leid

Geht es um die biblische Figur des Judas Ischariot, dann hört man immer wieder auch die These, dass es diesen angeblichen Verrat Jesu durch Judas gewissermaßen gebraucht habe, damit insgesamt ein göttlicher Heilsplan in Erfüllung gehen konnte. Judas also in der Rolle der dunklen Gestalt und doch notwendig: Denn ohne Verrat hätte es keinen Kreuzestod Jesu gegeben und folglich auch keine Auferstehung. Treitler hält von dieser Sichtweise wenig. Er könne sich nicht vorstellen, dass Gott derart blutige und grausame Wege brauche, um Erlösung herbeizuführen. Aus seiner Sicht ist so ein Denken klein und Gottes unwürdig.

Für den Theologen ist Judas also nicht der böse Verräter, sondern einer, der Jesus besonders nahe war und der ihn vor allem als Messias unmittelbar erleben wollte - und nicht als Gescheiterten. Insgesamt will Treitler zu einem neuen Blick auf die biblische Figur des Judas ermutigen. Man könne von Judas durchaus etwas lernen, so Treitler, denn in seiner Hartnäckigkeit, an Jesus als Messias festzuhalten, könne er als Vorbild christlichen Glaubens stehen.

Andreas Mittendorfer und Nina Goldmann, religion.ORF.at

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