Von Kabul nach Traiskirchen

Menschen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak stellen derzeit 70 Prozent der Asylanträge in Österreich. In Traiskirchen sind momentan besonders viele Menschen aus Afghanistan untergebracht, einem Land mit 40 Jahren Kriegsgeschichte.

„Vor drei Jahren ist mein Vater von den Taliban getötet worden, weil wir Schiiten sind“, erzählt der 16-jährige Nasir Ahmad im Gespräch mit religion.ORF.at beim Erstaufnahmezentrum Ost Traiskirchen. Wir sprechen durch den Zaun des Lagers mit ihm, hinein dürfen wir nicht. Nasir Ahmad und seine Familie gehören der Minderheit der Hazara an. Radikale sunnitische Gruppierungen wie die Taliban betrachten die schiitischen Hazara als Ungläubige, immer wieder kommt es zu Entführungen und Morden auf offener Straße.

Asylwerber in Traiskirchen

ORF/Marcus Marschalek

Durch die Gitterstäbe der Lagerbegrenzung in Traiskirchen entsteht der erste Kontakt zu den Flüchtlingen. Miriam Beller (li.) vom ORF-Team spricht Farsi

Qodrah, der aus Kabul kommt, erzählt, dass es für ihn und seine Familie zeitweise nicht einmal möglich war, ihre Einkäufe zu erledigen. Doch nicht nur Schiiten leiden unter der schlechten Sicherheitssituation in Afghanistan. In Traiskirchen trifft das Team von religion.ORF.at Menschen aus allen Teilen des Landes. Viele kommen aus Gebieten, die seit Monaten wegen der eskalierenden Gewalt in den Medien sind. Die meisten afghanischen Flüchtlinge hier sind so jung, dass sie ihr Heimatland nur im Konfliktzustand kennen. Viele haben Familienmitglieder durch Krieg und Verfolgung verloren.

Zuflucht in Pakistan und dem Iran

Die meisten afghanischen Flüchtlinge leben in den Nachbarländern Pakistan und Iran. Genaue Zahlen zu bekommen ist schwierig, Schätzungen gehen aber von fast drei Millionen afghanischen Flüchtlingen in Pakistan und zwischen zwei und drei Millionen Afghanen im Iran aus. Doch auch die Situation in Pakistan und dem Iran wird für afghanische Flüchtlinge immer schlechter. In Pakistan werden vor allem die schiitischen Hazara Opfer von Anschlägen und gezielten Tötungen. Im Iran leiden Afghanen unter Rassismus und staatlicher Diskriminierung, ihr Zugang zu Bildung und Sozialleistungen ist stark eingeschränkt.

Gefährlicher Weg nach Europa

Nur ein Bruchteil der Flüchtenden sucht in Europa Schutz, auch wenn für 2015 ein deutlicher Anstieg der Antragszahlen erwartet wird. Im Jahr 2014 haben laut Eurostat, dem statistischen Amt der EU, rund 70.000 Afghanen in der EU um Asyl angesucht, in Österreich waren es 2014 laut dem Bundesministerium für Inneres (BMI) knapp mehr als 5.000. Mit Ende Juni 2015 wurde diese Zahl bereits überschritten. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres haben bereits mehr als 5.700 Afghanen in Österreich einen Asylantrag gestellt.

Asylwerber in Traiskirchen

ORF/Marcus Marschalek

5.700 Afghanen haben dieses Jahr bereits einen Asylantrag in Österreich gestellt. Viele von ihnen kamen zunächst in das Lager in Traiskirchen

Jene Flüchtlinge, die es bis nach Europa schaffen, haben viele Gefahren hinter sich gebracht. „Jeder, der hierher kommt, hat auf dem Weg sehr viele Probleme gehabt. Es gibt gar niemanden, der auf der Flucht keine Schwierigkeiten gehabt hätte“, sagt Khair Ali. Ein anderer junger Afghane namens Zaher (16) erzählt von seiner Fluchtroute: „Wir sind durch den Iran in die Türkei und dann nach Griechenland. Von dort sind wir über Bulgarien, und Serbien nach Ungarn, und dann hierher nach Traiskirchen.“ Hunderte Kilometer legen die Flüchtenden dabei zu Fuß zurück. Über gewisse Streckenabschnitte werden sie in LKWs geschmuggelt. Über die Ägais zwischen der Türkei und Griechenland kommen sie meist in kleinen Booten, andere versuchen sich auf dem Landweg nach Griechenland oder Bulgarien durchzuschlagen. Es dauert meist Monate, bis die Flüchtenden in einem Lager wie Traiskirchen ankommen.

In Südosteuropa im Gefängnis

In Traiskirchen trifft religion.ORF.at besonders viele minderjährige Asylwerber. Sie erzählen nicht nur von den Strapazen der langen Fußmärsche im Iran und in der Türkei, sondern auch von Schikanen in europäischen Ländern. „In Bulgarien war es schlimm. Dort waren wir im Gefängnis. Sie haben uns nichts zu essen gegeben und uns geschlagen“, erzählen gleich mehrere minderjährige Flüchtlinge. Viele junge Afghanen waren entweder in Bulgarien, Serbien oder Griechenland monatelang im Gefängnis. Nicht, weil sie ein Verbrechen begangen hatten, sondern weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen konnten. Der Fakt, dass viele noch nicht einmal 18 Jahre alt waren, hat sie nicht vor der Haft geschützt.

Traiskirchen Lager innen

ORF/Orientierung

Das Lager Traiskirchen ist überfüllt. Die Flüchtlinge finden keinen Platz mehr in den Schlafräumen. Über 1.200 Menschen schlafen ohne Bett im Freien.

Auch in Österreich fühlen sich viele im Stich gelassen. Die Ankunft hier hat sich auch Nasir Ahmad anders vorgestellt. „Jetzt sitzen wir hier in Traiskirchen, und es ist wieder wie in einem Gefängnis“, sagt er durch die Gitter des Lagers. Wie 1.200 andere auch, schläft er auf einer Decke in der Wiese vor dem Erstaufnahmezentrum. Er holt ein Blatt Papier mit seinen Daten hervor, darauf ist offiziell vermerkt: „Kein Bett“.

Nasir Ahmads Mutter hat ihn nach Europa geschickt, um ihm ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen. Er weiß nicht, wie er ihr erklären soll, dass er im fernen Österreich weder ein Bett noch ein Dach über dem Kopf hat. Er weiß nicht, wie es mit ihm weitergehen wird. Er weiß nur, dass er aus dem Lager in Traiskirchen so schnell wie möglich weg will.

Miriam Beller, religion.ORF.at

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