Erinnerung an Susan Sontag am letzten Tag des JFW15

Eine filmische Annäherung an die US-amerikanische Autorin, Filmemacherin und Stilikone Susan Sontag stand am Donnerstag auf dem Programm des Wiener Jüdischen Filmfestivals.

Dazu waren drei weitere Filme zu sehen. Es war der letzte Spieltag eines Festivals mit vielen Höhepunkten; von dem ein neuer Besucherrekord erwartet wurde. Das Jüdische Filmfestival ging so zu Ende wie es begonnen hat: neugierig, bunt, mit einer breiten Palette von Themen. „Zero Motivation“, ein israelischer Spielfilm, beleuchtete ein Thema, bei dem alle männlichen und weiblichen Israelis aus eigener Erfahrung mitreden konnten: die Armee.

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Jüdisches Filmfestival Wien
religion.ORF.at begleitet das Jüdische Filmfestival Wien als Medienpartner und berichtet über ausgewählte Programmpunkte.

Jüdisches Filmfestival Wien 2015

Der französische Streifen „Les Heritiers“ („Die Kinder der Madame Anne“) - er war auch der Eröffnungsfilm des Festivals - schildert die in diesem Fall glänzend gemeisterten Schwierigkeiten einer engagierten Lehrerin in Paris, eine sogenannte Problemklasse an die Holocaust-Erinnerung heranzuführen. „Ida“ thematisiert Kommunismus, Katholizismus und den tief im polnischen Nationalismus verankerten Antisemitismus anhand einer dramatischen Geschichte, in der eine angehende katholische Nonne ihre jüdische Identität entdeckt und von der Auslöschung ihrer Familie erfährt.

Vielfältiges Judentum, buntes Festival

Das Judentum ist in sich so vielfältig, dass es sich mit ein paar Begriffen nicht beschreiben lässt. Es ist eine Religion, aber es gibt – von liberal bis ultraorthodox – viele Weisen, sie zu leben, und wer sich als Jüdin und Jude versteht, muss nicht religiös sein. Es ist eine Kulturgemeinschaft, die aber in vielen Kulturen lebt.

Es ist eine Schicksalsgemeinschaft, aber nicht alle teilen dasselbe Schicksal. Das Judentum lebt von Tradition und der Weitergabe des Erbes, aber viele seiner Vertreterinnen und Vertreter sehen ihre Heimat in der Avantgarde. Es lebt in Exil und Diaspora, aber es hat auch seinen Staat. Es ist eine unversiegbare Quelle der Kreativität, der Wissenschaft, der Kunst und des Filmschaffens, aber ein Teil seiner Mitglieder liest ausschließlich Tora und Talmud und geht nicht ins Kino.

Zahlreiche Highlights

Das Judentum lässt sich also nicht über einen Kamm scheren. Auch wenn die religiöse Frage nach Sinn und Bedeutung der Existenz in vielen Filmen mitschwingt: ein jüdisches Filmfestival kann nicht nur ein Festival des Religionsfilms sein.

Aber genauso wenig kann das religiöse Judentum als Thema fehlen. Es war ein schöner, ungewöhnlicher Moment im diesjährigen Programmablauf, als ein streng religiöser „Hared“ in Hut und schwarzem Mantel dem überwiegend säkularen Publikum Fragen über seinen Film Sacred Spearm beantwortete, in dem er das strikte Masturbationsverbot für Burschen und Männer – und die nicht unbeträchtlichen Probleme, es umzusetzen – beleuchtet.

Ein Schwerpunkt zum Thema Exil brachte die Gelegenheit, neben aktuellen Spiel- und Dokumentarfilmen Klassikern einen Auftritt zu bescheren: Casablanca zum Beispiel, der große Emigrantenfilm, der Hoffnungen und Ängste von in Marokko gestrandeten NS-Flüchtlingen thematisiert, mit dem Triumph der Marseillaise über die „Wacht am Rhein“ als emotionalem Höhepunkt. Daneben waren aber auch zeitgenössische Produktionen im Schwerpunkt-Programm zu sehen. Etwa die griechische Dokumentation Kisses to the Children, die zeigte, welche seelische Narben Kinder davontrugen, die vor den Nazis ins Exil flüchten mussten.

Israel im Blick

Der beeindruckende „Fritz Bauer“ in seinem Nachkriegs-Kampf für die Ahndung von Nazi-Verbrechen wird in Erinnerung bleiben. Oder die Filme des immer zu ausführlichen Gesprächen bereiten israelischen Regisseurs Eytan Fox, des Doyens des israelischen queer cinema, der es meisterhaft versteht, seine persönlichen Erzählungen auf eine Schilderung politischer Wirklichkeit hin zu öffnen.

Wer seine Drag Queen „Mary Lou“ beim Betrachten des gleichnamigen Filmes nicht lieb gewinnt, sollte etwas gegen Herzensversteinerung unternehmen. Die Darstellung zweier deutscher Enkel eines Nazi-Verbrechers in Walk on Water zählt zu den vielen Highlights des Festivals.

Zu den illustren Gästen zählte diesmal ein Ex-Agent des israelischen Inlandsgeheimdienstes „Schin Bet“, der über seine Zusammenarbeit mit dem in allen Farben schillernden „Grünen Prinzen“ berichtete, dem Sohn eines Hamas-Führers im Westjordanland, der zehn Jahre lang mit den Israelis zusammenarbeitete und gegen die eigenen Leute spionierte. Israel und Nahostkonflikt. Keine Ausgabe des Jüdischen Filmfestivals kommt daran vorbei. Dabei sind es immer wieder gerade israelische Filmemacher, die sich mit der Kritik an der Politik ihrer Regierung nicht zurückhalten.

Es darf gelacht werden

Nach zwei Festivalwochen hat natürlich jeder und jede eigene Eindrücke gesammelt. Man konnte sich an einer kleinen Woody-Allen-Retrospektive freuen, etwa an „Stardust Memories“, in der die Hauptfigur markant formuliert: „Du magst mich für einen Atheisten halten, aber für Gott bin ich nur seine loyale Opposition.“

Der jüdische Humor, leid- und schicksalsgetränkt, und vielleicht darum besonders witzig: Natürlich gibt es gute Pointen in vielen Filmen, aber das Festival widmet dem Lachen eine eigene Schiene namens Night Laugh.

Wer etwa in Seres queridos miterlebt hat, wie in einer unendlich chaotischen jüdischen Familie der palästinensische Bräutigam der Tochter fürchten muss, den Schwiegervater in spe mit tiefgekühlter Suppe erschlagen zu haben, versteht etwas besser, was jüdischer Humor im Kino seit Charly Chaplin und den Marx-Brothers sein kann. Wehmütig, aber auch humorvoll: die Begegnung mit dem letzten Film des aus Österreich stammenden Schauspielers und Sängers Theodore Bikel, in dem er die Devise des großen Schriftstellers Scholem Aleichem, zitiert: „Du musst überleben, auch wenn es dich umbringt.“

Susan Sontag und der Hunger nach Lebendigkeit

Regarding Susan Sontag heißt die Dokumentation von Nancy Kates, die noch einmal Aspekte des Jüdisch-Seins in sich versammelt: Neugier auf Kunst und Bildung, Kreativität und Lebenslust.

Susan Sontag

REUTERS/Alessia Pierdomenico

Susan Sontag erholt sich vor einer Pressekonferenz im Garten

Als Susan Sontag am 28. Dezember 2004 starb, geschah das nicht in stillem Einverständnis. „Der Tod ist das Gegenteil von allem“, notierte sie. Sie wollte nicht sterben, lehnte sich auf gegen das Urteil einer Diagnose, die ihr kaum noch Hoffnung ließ. Es war eine besonders schwerwiegende Form von Leukämie, gegen die die Medizin nichts mehr aufzubieten hatte.

Sontags Sohn, David Rieffs, hat dem Sterben seiner Mutter ein berührendes Buch gewidmet: „Tod einer Untröstlichen“ heißt es. „Death has finally become real“ (der Tod ist nun Realität geworden, schrieb sie ins Tagebuch.

Es war nicht die erste Krebsdiagnose. Schon zwei Mal – einmal war sie Anfang vierzig, einmal in ihren Sechzigern – war Susan Sontag im Kampf gegen die Krankheit siegreich geblieben. In dem Essay Krankheit als Metapher wendet sich massiv dagegen, Krankheit und insbesondere Krebs als eine Bild für etwas Anderes zu beschreiben, etwa – wie im 19. Jahrhundert die Tuberkulose – als Ausdruck einer leidenden Seele.

Am Ende werde so den Erkrankten die Schuld zugeschrieben, argumentiert sie. Im Falle der Tuberkulose waren die romantischen Zuschreibungen ja auch rasch vom Tisch, als der Tuberkel-Bazillus entdeckt wurde.

Eine Leseratte von Anfang an

Seit frühester Kindheit war Susan Sontag von einem Wissensdrang beseelt, der seinesgleichen sucht. Schon als Teenager ackerte sie sich durch die große Literatur: Homer, Vergil und Dante, Kant und Descartes. „Du wirst nicht heiraten, wenn du so viel liest“, mahnte ihr Stiefvater.

Sie brach in Lachen aus. Als ob sie auch nur im Traum daran denken würde, jemanden zu heiraten, der Bücher nicht schätzte. Sie studierte in Chicago Literatur, Theologie und Philosophie. Mit 17 heiratete sie den Soziologieprofessor Philip Rief und wurde zwei Jahre später Mutter. Ohne Mann ging sie nach Paris und entdeckte ihre Homosexualität, verliebte sich in Frauen, die in ihren Metiers erfolgreich waren: eine Theaterschriftstellerin, eine Filmproduzentin, eine Tänzerin. Und zuletzt die Fotografin Annie Leibovitz.

Die Ikone Sontag

Sie war eine der meistfotografierten Frauen ihrer Generation, stilbildend wie ein Popstar. Im Film sieht man zum Beispiel Andy Warhol mit der Kamera an der Arbeit. „Sie mag ihr Haar wild und ihre Sätze intensiv“, schrieb die New York Times.

Aber als Model allein wäre Susan Sontag nicht Susan Sontag. Sie war rastlos produktiv, schuf eine kaum überschaubare Menge an Essays zu Kunst und Politik, dazu Spiel- und Dokumentarfilme. Im Festival hatte sie übrigens noch einen zweiten Auftritt, als Interviewpartnerin in Woody Allens Mockumentary „Zelig“.

Was sie schreibt, ist streitbar. „Gegen Interpretation“ heißt ein wichtiges Buch. Kunst zu interpretieren bedeute sie ärmer zu machen, argumentiert sie – die Welt zu entleeren zugunsten einer Schattenwelt von Bedeutungen. „Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.“ Kunstkritik müsse zeigen, was etwas ist, nicht, was es bedeutet.

Engagement für die Unterdrückten

Die Dokumentation schwelgt nicht nur in den Vorzügen der großen Amerikanerin. Sie zeigt auch Kanten und Defizite. Etwa, dass ihr die Kritik beinahe unisono bescheinigte, gerade auf dem Gebiet, das ihr besonders wichtig war, nicht das größte Talent zu besitzen: in der fiktionalen Literatur, dem Schreiben von Romanen. „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“, unter diesem Titel sind ihre Tagebücher auf Deutsch erschienen. „Ein Autor ist jemand, der sich für alles interessiert“, notiert sie darin.

So viel Zeit sie am Schreibtisch verbringt, so sehr ist und bleibt sie ein Mensch der Öffentlichkeit. In Fernsehstudios ist sie häufiger Gast. Sie engagiert sich gegen den Vietnam-Krieg. Als Sarajevo von serbischen Truppen belagert wird und das Leben in der Stadt trist und gefährlich ist, inszeniert sie dort „Warten auf Godot“. Das ist ihre Weise, jüdisch zu sein: „Als Jüdin empfinde ich eine besondere Verantwortung, mit den Schwachen und Unterdrückten zu seufzen.“

Ein notwendiges Festival

Das Jüdische Filmfestival wächst derzeit von Jahr zu Jahr. Mehr als 6000 Eintrittskarten wurden verkauft; ein erfreulicher neuer Rekord. Schulveranstaltungen schafften Erlebnisräume für junge Generationen. Ein Symposion ging dem Schwerpunktthema „Exil“ auf den Grund. Wien braucht dieses Festival.

Der Kulturverlust durch Holocaust und Vertreibung der Juden aus der Stadt sind nicht wieder gutzumachen, aber Orte der Begegnung mit jüdischer Kultur können den Phantomschmerz vielleicht lein wenig indern. Was Susan Sontags im Vorspann zu ihrem Film sagt, könnte als heimliches Motto über dem Festival stehen: „Ich bin glücklich, am Leben zu sein.“

Christian Rathner, religion.ORF.at