„Allahu akbar“: Schlachtruf oder Friedensgruß?

Weltweit distanzieren sich Muslime von islamistischem Terror, wie er sich zuletzt in Paris gezeigt hat. Aber genügt das? Und: Wie gehen Muslime mit den Koranstellen um, die von den Dschihadisten als Legitimation für Gewalt verwendet werden?

„Allahu akbar“ rufen Terroristen, bevor sie sich und die Menschen um sich töten. Muslime betonen, dass der Terror der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), der Al-Nusra-Front oder Al-Kaidas nichts mit dem Islam zu tun habe. Und doch rufen Selbstmordattentäter diese Formel, die von gläubigen Muslimen unter anderem auch bei den täglichen Pflichtgebeten gesprochen wird.

Was bedeutet es also, wenn Terroristen dieselbe Formel verwenden wie gläubige Muslime, die den Islam als Religion des Friedens leben? Und wie gehen Muslime mit den Stellen des Korans um, die zu Gewalt aufrufen? Trotz der Verurteilungen von muslimischer Seite hat sich in vielen Köpfen Unsicherheit darüber, was wirklich im Koran steht, festgesetzt.

Im Koran ist die Verteidigung im Fall eines Angriffs von außen erlaubt. Die IS-Extremisten wurden nicht physisch angegriffen, sie betrachten unter anderem die westliche Lebensweise allein schon als Angriff auf ihr Werteverständnis. „Sie konstruieren sich einen Anlassfall und argumentieren so ihr Morden“, so der Kulturreferent der Islamischen Religionsgemeinde St. Pölten für das Land Niederösterreich, Gernot Galib Stanfel, im Gespräch mit religion.ORF.at.

Ein Koran mit Hand

Reuters/Thaier Al-Sudani

Der Koran gilt Muslimen als direkt von Gott offenbart

Suren, die Gewalt erlauben

Konkret werden zumeist die Verse 190 bis 193 aus Sure 2 als Belege für Aufrufe zur Gewalt an Ungläubigen im Koran angeführt:

190 „Und kämpft um Allahs willen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen! Aber begeht keine Übertretung (indem ihr den Kampf auf unrechtmäßige Weise führt)! Allah liebt die nicht, die Übertretungen begehen.“ 191 „Und tötet sie, wo (immer) ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben! Der Versuch (Gläubige zum Abfall vom Islam) zu verführen ist schlimmer als Töten. Jedoch kämpft nicht bei der heiligen Kultstätte (von Mekka) gegen sie, solange sie nicht (ihrerseits) dort gegen euch kämpfen! Aber wenn sie (dort) gegen euch kämpfen, dann tötet sie! Derart ist der Lohn der Ungläubigen.“

192 „Wenn sie jedoch (mit ihrem gottlosen Treiben) aufhören (und sich bekehren), so ist Allah barmherzig und bereit zu vergeben.“ 193 „Und kämpft gegen sie, bis niemand (mehr) versucht, (Gläubige zum Abfall vom Islam) zu verführen, und bis nur noch Allah verehrt wird! Wenn sie jedoch (mit ihrem gottlosen Treiben) aufhören (und sich bekehren), darf es keine Übertretung geben, es sei denn gegen die Frevler.“

Ebenso dient Sure 5, Vers 57 als Rechtfertigung:

57 „Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht diejenigen, die mit eurer Religion ihren Spott und ihr Spiel treiben - (Leute) aus dem Kreis derer, die (schon) vor euch die Schrift erhalten haben - und (auch nicht) die Ungläubigen zu Freunden! Und fürchtet Allah, wenn (anders) ihr gläubig seid!“

Keine allgemeine Aufforderung zum Töten

Wie gehen Muslime nun mit diesen Anordnungen um? Aus der Sicht des Religionspädagogen und Obmannes der Initiative „Netzwerk sozialer Zusammenhalt - Prävention, Deradikalisierung und Demokratie“, Moussa al-Hassan Diaw, ist klar, dass sich die politischen Extremisten mit religiösen Attributen tarnen. Gegenüber Ö1 sagte er am Montag, dass den Menschen verdeutlicht werden müsste, dass ein Unterschied besteht zwischen den politischen Extremisten und den Muslimen, die hier leben.

Von Muslimen wird immer wieder betont, dass die Koranverse in ihrem Entstehungszeitraum betrachtet werden müssten. Stanfel sagte dazu, die junge muslimische Gemeinschaft habe sich in Medina selbst verteidigen müssen, nachdem sie angegriffen worden sei. Das werde aber anlassbezogen gelesen, so Stanfel, nicht allgemeingültig.

Gelehrte anerkennen IS nicht

Der Prophet Mohammed flüchtete im Jahr 622 von Mekka nach Medina. Dort habe sich die junge Gemeinde dann auch gegen Angriffe der polytheistischen Stämme gewehrt, so Stanfel. Keinesfalls, wird immer wieder betont, werde das vom Mainstream der Muslime als eine Aufforderung zum wahllosen Töten verwendet. Dafür spricht auch, dass weltweit kein einziger muslimischer Gelehrter den Islamischen Staat anerkennt.

Für den in Deutschland lebenden palästinensisch-israelischen Psychologen und Autor Ahmad Mansour reicht die bloße Distanzierung von Terrorakten nicht. Er ortet einen gewissen Unwillen von Muslimen, sich eigenen Inhalten und Problemen zu stellen. Dem entgegnet Stanfel, dass es ein sehr junges Phänomen sei, einzelnen Versen oder Textpassagen des Korans Allgemeingültigkeit zuzuschreiben. Das geschehe zum Teil durch Muslime selbst, aber auch durch Nichtmuslime, wobei Stanfel „muslimische“ Terroristen, die vermeintlich im Namen Gottes morden, nicht als Muslime bezeichnen möchte.

Gernot Galib Stanfel

Gernot Galib Stanfel

Gernot Galib Stanfel möchte die islamistischen Terroristen nicht als Muslime bezeichnen

Tradition der Auslegung wiederbeleben

Der als liberal geltende islamische Theologe Mouhanad Khorchide forciert eine historisch-kritische Theologie. „Aussagen, dass der Islam durchweg friedlich oder durchweg gewaltbereit sei, gehen an der Realität vorbei“, so Khorchide in der aktuellen „Herder Korrespondenz“. „Diese Dinge muss man nicht neu erfinden, das war jahrhundertelang so“, sagt dazu Stanfel. 1.400 Jahre lang sei die islamische Tradition davon geprägt gewesen, die Texte zu deuten und in den historischen Kontext einzubetten, so der Lehrer an der Islamischen Religionspädagogischen Akademie (IRPA).

Die deutsche islamische Religionspädagogin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor spricht in diesem Zusammenhang von „Kontextualisierung“. Im Christentum wird dieser Zugang als historisch-kritische Methode bezeichnet, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt und beispielsweise in der römisch-katholischen Kirche erst nach dem Zweiten vatikanischen Konzil (1962-65) etabliert hat. Wie gegenwärtig christliche Gruppierungen in den USA zeigen, hat sich aber auch im Christentum eine wortwörtliche Lesart der Bibel erhalten.

„Lesart muss Kritik aushalten“

Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler und Autor Hamed Abdel Samad formuliert in seinen Büchern, Vorträgen und Interviews drastisch, dass Islamismus und Dschihadismus eng mit dem Propheten Mohammed und dem Koran verbunden seien. Sein Resümee: Muslime müssten sich von ihrem Propheten und ihrer heiligen Schrift ein Stück weit distanzieren. Oft ist auch der Vorwurf zu hören, Muslime seien zu wenig kritikfähig. Für den mit 22 Jahren zum Islam konvertierten Niederösterreicher Stanfel dagegen ist klar, dass man die Offenbarung nicht kritisieren kann, sehr wohl aber die Auslegung und Lesart. „Jede Religion ist eine Institution und enthält problematische Passagen“, die, so Stanfel, diese Kritik auch aushalten müssten.

Aktuell stehe die soziologische und politische Ebene im Vordergrund und die spirituelle Ebene im Hintergrund, bedauert Stanfel. Die Spiritualität komme zu kurz. „Die Tragik ist, dass wir, weil die IS-Verbrecher und manche Islamkritiker dieselben Auslegungsarten wählen, langsam die Deutungshoheit über unsere eigenen Texte verlieren.“ Verantwortlich macht Stanfel auch das Fehlen von Allgemeinbildung über den Islam, sowohl aufseiten der Nichtmuslime als auch bei manchen Muslimen.

Nina Goldmann, religion.ORF.at

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