Autor Kermani beklagt Identitätsverlust von Kirchen

Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani hat sich besorgt über einen selbst verursachten Identitätsverlust und Achtlosigkeit der christlichen Kirchen geäußert.

„Ich bemerke eine große Achtlosigkeit der Kirchen - nicht nur gegenüber der Kunst, sondern auch gegenüber der Literatur und der Musik“, sagte er in einem am Freitag veröffentlichten Interview der Zeitschrift „Publik-Forum“. Solche Achtlosigkeit erlebe er sogar im Blick auf die eigene Verkündigung, auf die Sprache der Bibel und der Predigt sowie auf die ureigenen Rituale und Formen der Kirchen, erklärte Kermani, der im Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.

Religion auf Theologie reduziert

Er frage sich, ob sich die Kirchen heute des religiösen Erlebens schämten, so Kermani weiter. Dieses habe nun mal mit Herzenstätigkeit zu tun, sei ein sinnlicher Vorgang, der offenbar durch Verständnis ersetzt werden solle. Damit werde jedoch Religion auf Theologie reduziert, und der Gottesdienst werde zu einer Art politisch-ethischer Bildung. Die Theologie und damit das rationale Verstehen und Einordnen der religiösen Erfahrung werde zwar auch weiter gebraucht, und auch das politische Wirken der Kirchen sei erforderlich. Aber das sei nicht alles und auch nicht das Ursächliche an der Religion.

Navid Kermani

APA/EPA/Alexander Heinl

Autor Navid Kermani

Kermani beklagte zudem eine Zunahme religiöser Gewalt. Das betreffe nicht nur den Islam, der zunehmend vom Wahhabismus - einer puristisch-traditionalistischen Richtung des sunnitischen Islams - dominiert werde, sondern auch das evangelikale Christentum, das sich noch schneller ausbreite. Diese Bewegung sei zwar heterogen und habe teilweise auch sehr achtbare Inhalte. Doch zeige das Missionswesen mancher evangelikaler Gruppen in Afrika und Asien „verheerende Auswirkungen“. So sei in Deutschland bislang kaum wahrgenommen worden, dass mit dem Einmarsch der USA in den Irak und in Afghanistan sofort auch radikale evangelikale Gruppen ins Land gekommen seien.

Mehr mit Gewalt beschäftigen

Die großen christlichen Kirchen setzten sich mit dieser Gewalt viel zu wenig auseinander. Stattdessen werteten sie andere Kulturen und Religionen „systematisch und aggressiv“ ab. Nicht nur der Wahhabismus stemple Andersgläubige zu Ungläubigen. Andererseits sei es ein völliger Irrtum zu glauben, dass die Welt ohne Religion friedlicher sei. Der Mensch sei offenbar ein kriegerisches Wesen und Religion „ein kollektiver Ausdruck unseres Umgangs mit den Dingen der Welt, im Schrecklichen wie im Schönen“, meinte Kermani.

Zuletzt erschien von dem deutsch-iranischen Schriftsteller in diesem Jahr das Buch „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“, mit dem er sich in die christliche Bildwelt versenkte - mehr dazu in Navid Kermani: Faszination Christentum.

religion.ORF.at/KAP/KNA

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