Missbrauch: Ratzinger macht widersprüchliche Aussagen

Der ehemalige Leiter der Regensburger Domspatzen, Georg Ratzinger, soll sich nun doch für die Aufklärung der Missbrauchsfälle im Domchor ausgesprochen haben. Am Dienstag hatte er die Aufklärungsarbeit laut Medienberichten noch „Irrsinn“ genannt.

Ratzinger, der Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI., sei mit dem Vorgehen der Diözese Regensburg uneingeschränkt einverstanden, erklärte der langjährige Chorleiter am Dienstag nach Angaben der Diözese. Es sei richtig, alle Beschuldigungen rückhaltlos aufzuklären, so der Prälat. Ebenso begrüße er es, dass diese Aufgabe einem Rechtsanwalt übertragen sei, der unabhängig von der Diözese arbeite.

„Irrsinn und Kampagne“

Der Bayerische Rundfunk (BR) hatte Ratzinger allerdings am gleichen Tag mit den Worten zitiert: „Diese Kampagne ist für mich ein Irrsinn. Es ist einfach Irrsinn, wie man über 40 Jahre hinweg überprüfen will, wie viele Ohrfeigen bei uns verteilt worden sind, so wie in anderen Einrichtungen auch.“

Für ihn sei das Thema abgeschlossen, äußerte der 91-Jährige laut BR. Er war von den TV-Journalisten offenbar am Montagabend am Münchner Flughafen nach seiner Rückkehr aus Rom auf die Vorfälle angesprochen worden. Wie diese Aussagen mit der von der Diözese Regensburg erklärten Zustimmung zu den Aufklärungsbestrebungen vereinbar sind, ist fraglich.

Ratzinger angeblich „informiert“

Ratzinger war von 1964 bis 1994 als Domkapellmeister Leiter des weltberühmten Chors. Nach den Worten von Michael Sieber, Chormitglied in den 1960er Jahren, versichern mehrere ehemalige Domspatzen, dass Ratzinger „auch über den sexuellen Missbrauch im Regensburger Internat, zumindest über den Verdacht, informiert war“, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“ (Mittwochausgabe).

Georg Ratzinger

dpa/Armin Weigel

Georg Ratzinger

Ratzinger sei nicht dagegen eingeschritten und habe sich auch nicht informiert, ob die Verdächtigungen wahr seien. Entsprechende Berichte will Sieber nach Rücksprache mit den Betroffenen demnächst veröffentlichen.

„Keine größeren Misshandlungen“

Der Eichstätter Domkapellmeister Christian Heiß (48) sagte demgegenüber dem „Eichstätter Kurier“ (Mittwochausgabe), es habe zu seiner Zeit bei dem Regensburger Chor „keine größeren Misshandlungen“ gegeben. Heiß sagte, er sei sich mit seinen Schulkameraden einig, dass es in seiner Regensburger Zeit im Domspatzen-Internat nicht zu Übergriffen gekommen sei.

Als Schüler sei man zuweilen „frech“ gewesen, da habe es die eine oder andere disziplinarische Maßnahme gegeben. Ratzinger habe durchaus zornig werden können, berichtete der heutige Eichstätter Domkapellmeister. Allerdings hätten er selbst oder seine Klassenkameraden nie etwas von sexuellem Missbrauch gehört. Mit ähnlichen Aussagen wie Heiß kamen im „Eichstätter Kurier“ zwei weitere Ex-Domspatzen zu Wort.

Bereits weitere Fälle bekannt

Bei den Domspatzen gab es nach Angaben des Juristen Ulrich Weber zwischen 1953 und 1992 mindestens 231 Fälle von Misshandlung, in wenigstens 62 Fällen kam es zu sexueller Gewalt. Weber, der von der Diözese Regensburg mit der Untersuchung der Vorwürfe betraut ist, hatte am Freitag einen Zwischenbericht vorgelegt. Seither hätten sich 20 weitere ehemalige Domspatzen bei ihm gemeldet, sagte er dem BR. Er geht zudem davon aus, dass es insgesamt etwa 700 Fälle sein könnten.

Anwalt Weber ließ keinen Zweifel daran, dass seiner Meinung nach auch Ratzinger über die Züchtigungen im Bilde gewesen war. Er habe zumindest 1987 von Gewalt in der Vorschule der Domspatzen erfahren. Der Anwalt betonte zudem, selbst wenn man die Prügel im Kontext der damaligen Erziehung sehe, zeige sich eine „grobe Unverhältnismäßigkeit“.

„Übliche“ Disziplinarmaßnahmen

Ratzinger sagte hingegen in einem Interview, Schläge und Ohrfeigen seien damals „in allen Erziehungsbereichen wie auch in den Familien üblich“ gewesen. Bei den Domspatzen hätten sie keine andere Bedeutung gehabt als dort.

Gymnasium und Internat der Regensburger Domspatzen in Regensburg

APA/dpa/Armin Weigel

Domspatzen-Internat

Der aktuelle Regensburger Domkapellmeister Roland Büchner stellte sich hinter die Untersuchung der Prügel- und Missbrauchsvorwürfe bei dem Knabenchor. „Das muss aufgeklärt werden, dem muss man nachgehen“, sagte er der „Mittelbayerischen Zeitung“ (Mittwochausgabe). In verschiedenen Blättern meldeten sich außerdem weitere ehemalige Domspatzen mit gegenläufigen Aussagen über ihre jeweilige Zeit in dem weltberühmten Chor zu Wort.

Ausmaß unterschätzt

Büchner sagte, die Prügelstrafen seien manchmal so exzessiv gewesen, „dass es sich auch damals um Körperverletzung gehandelt hat“. Wenn er höre, welche Dinge in der Domspatzen-Vorschule in Etterzhausen und später in Pielenhofen passsiert seien, „steigt in mir die Wut hoch“. Die Vorfälle seien „eine Last, die man mit sich trägt, die einen fast täglich in Briefen oder Telefonaten erreicht“, ergänzte der Domkapellmeister. Die Klärung der Vorwürfe ziehe sich deshalb so lange hin, weil man das Ausmaß der Opferzahl anfangs unterschätzt habe. Büchner ist seit 1994 Chef der Domspatzen.

Der ehemalige Schlierseer Berufsjäger Konrad Esterl (79), der von 1947 bis 1950 bei den Domspatzen war, sprach im „Münchner Merkur“ von „brutalen Schikanen“, an denen sich auch der damalige Domkapellmeister Theobald Schrems (1893 bis 1963) beteiligt habe. Die von Esterl berichteten Übergriffe sind von der bisherigen Aufarbeitung noch gar nicht erfasst. Für ihn sei das alles zu lange her, so der Ex-Alumne. Deshalb habe er sich bei dem zuständigen Rechtsanwalt Ulrich Weber mit seinen Erfahrungen nicht gemeldet. Er begrüße aber dessen Aufklärungsarbeit. „Endlich kommt Licht in die Dunkelheit.“

religion.ORF.at/KAP

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