EGMR: Aleviten in der Türkei diskriminiert

Die Türkei verletzt nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die schätzungsweise 20 Millionen Aleviten im Land in ihrer Religionsfreiheit.

Aleviten seien ohne objektive und einsichtige Begründung deutlich schlechter gestellt als die Mehrheit der sunnitischen Muslime, entschieden die Straßburger Richter am Dienstag. Damit hatte eine Beschwerde von mehr als 200 Aleviten Erfolg. Sie wollen unter anderem erreichen, dass ihre Gebetshäuser, die sogenannten Cemevis, offiziell anerkannt und den sunnitischen Gebetshäusern gleichgestellt werden.

Fördermittel und Beamtenstatus

Die mehr als zehn Millionen Aleviten sind nach den Sunniten die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in der Türkei. Die Aleviten erheben Anspruch auf staatliche Fördermittel und treten dafür ein, dass ihre religiösen Führer Beamtenstatus bekommen. Der Staat bezahlt den Unterhalt der Gebäude der sunnitischen Mehrheit und alimentiert Vorbeter mit einem Beamtenlohn. Die Aleviten müssen ihre Gebetshäuser und Vorbeter dagegen selbst finanzieren.

Die Regierung in Ankara hatte ein Gesuch der Aleviten nach Förderungen 2005 zurückgewiesen. Türkische Gerichte bestätigten diese Entscheidung. Sie wurde damit begründet, dass die Aleviten eine religiöse Bewegung innerhalb des Islam seien.

Scharia spielt keine Rolle

In der Türkei unterstützt das dem Ministerpräsidenten direkt unterstellte Amt für Religionsangelegenheiten (DIB) den orthodox-sunnitischen Islam. Die staatliche Einrichtung mit mehr als 100.000 Mitarbeitern soll einen Jahresetat von über einer Milliarde Euro haben und auch Moscheen im Ausland finanzieren. Nach Auffassung der Straßburger Richter verkennt die Türkei den religiösen Charakter des alevitischen Glaubens, der tief in der türkischen Geschichte und Gesellschaft verankert sei. Wie sie ihre Religion verstehen, sei Sache der Gläubigen und nicht des Staates.

Neben islamischen Einflüssen spielen für sie auch andere religiöse Traditionen eine Rolle. Das islamische Rechtssystem, die Scharia, hat für Aleviten keine Bedeutung. Sie lehnen eine dogmatische Religionsauslegung ab, unterstützen die Trennung von Staat und Kirche in der Türkei und stehen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP politisch fern. Aleviten leben nicht nach den fünf Säulen des Islam. So pilgern sie zum Beispiel nicht nach Mekka und fasten auch nicht im Ramadan. Frauen und Männer beten im selben Raum.

Richterspruch bindend

Was die Stellung der Aleviten im Vergleich zu den Sunniten angeht, sprechen die Richter von einem „eklatanten Ungleichgewicht“. Die Restriktionen hätten in vielerlei Hinsicht Nachteile für die Organisation und Finanzierung des religiösen Lebens. Die Begründung, die der türkische Staat dafür abgebe, sei „weder relevant noch ausreichend in einer demokratischen Gesellschaft“.

Das Urteil wurde von der Großen Kammer des Gerichtshofs gesprochen und ist damit unanfechtbar. Für die Mitgliedstaaten des Europarats sind die Urteile aus Straßburg bindend, das heißt, sie müssen die beanstandeten Menschenrechtsverstöße in Zukunft vermeiden. Wie die Türkei mit dem Richterspruch umgeht, ist noch unklar. Das Urteil könnte Folgen für die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU haben. Die EU-Kommission hatte die Diskriminierung der Aleviten in der Türkei bereits in der Vergangenheit kritisiert und auf die Religionsfreiheit verwiesen, zu der alle EU-Staaten verpflichtet seien.

religion.ORF.at/APA/AFP

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