Jom ha-Schoa: An Vergangenheit nicht zugrunde gehen

Die britische Autorin und Publizistin Freema Gottlieb plädiert dafür, das Judentum nicht über seine grausamen Erfahrungen zu definieren, und erzählt von ihrem Vater, der im Krieg Rabbiner in Wien war. Am Donnerstag wird der jüdische Gedenktag Jom ha-Schoa begangen.

Der israelische Gedenktag erinnert einerseits an den Holocaust, andererseits an die Helden des Widerstands gegen das NS-Regime. Der Gedenktag wird seit 1951 am 27. Tag des Monats Nissan im jüdischen Kalender begangen. Freema Gottliebs Vater gehört zu den Helden dieser Zeit. Er hatte in Wien eine jüdische Schule aufgebaut, und kurze Zeit haben sich sogar jüdische und Nazi-Interessen überschnitten, sagte die Publizistin im Gespräch mit dem Ö1-Religionsmagazin „Praxis - Religion und Gesellschaft“.

„Damals hat es ein gemeinsames Ziel gegeben - zumindest auf den ersten Blick - und das war die Auswanderung nach Israel“, so Gottlieb. Die habe man freilich vor einem sehr verschiedenen Hintergrund gesehen. Die Nazis, allen voran Adolf Eichmann, sahen die Auswanderung als Instrument, um das Judentum in Europa zu zerstören. „Für Menschen wie meinen Vater war es die Erfüllung eines Traumes, den Weg nach Israel anzutreten. Für einen sehr kurzen Zeitraum gab es so etwas wie eine Überschneidung der Interessen.“

Freema Gottlieb

ORF/Brigitte Krautgartner

Freema Gottlieb

„Idealist in Sachen Zionismus“

Kurz bevor Wolf Gottlieb, Freemas Vater, ihre Mutter Betty, „eine sehr gebildete Schönheitskönigin“, heiratete, gründete er seine Schule mit dem Motto „Freundschaft und Brüderlichkeit". Ihr Vater habe dort die Tradition mit dem modernen Leben verbinden können und sei ein Idealist in Sachen Zionismus gewesen, lange bevor die Nazis auf den Plan getreten sind“, so Gottlieb. Und er sei immer sehr beschäftigt gewesen, berichtet die Autorin von Verwandten-Erzählungen.

Freema Gottlieb

Freema Gottlieb wurde nach der Emigration ihrer Eltern nach England in London geboren und wuchs in Schottland auf. Nach ihrem Studium der englischen Literatur lehrte sie an verschiedenen jüdischen Einrichtungen in New York und in Prag.

In ihren Arbeiten befasst sie sich mit jüdischen Texten und weiblichen Perspektiven auf das Judentum. Sie ist Autorin dreier Bücher, u. a. „The Lamp of God: A Jewish Book Of Light“. Kürzlich war sie auf Einladung des Jewish Welcome Service in Wien.

Durch dieses gemeinsame Interesse an der Ausreise nach Israel blieb die Synagoge Wolf Gottliebs bestehen. „Sie war auch ein Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden. Denn die Nazis haben sich dort überhaupt nicht eingemischt“, sagte Gottlieb. Eine gewisse Zeit lang waren Juden dort in Sicherheit.

Das Judentum nicht untergehen lassen

Mit der zunehmenden Bedrohung durch das NS-Regime entschloss sich der Rabbiner, auszuwandern. Ein Grund dafür sei die Verantwortung gegenüber seiner jungen Frau gewesen, die er in Sicherheit und nicht allein wissen wollte - und auch der Verantwortung gegenüber der Zukunft, wie die Tochter erzählte. Es sei darum gegangen, das Judentum mittel- und osteuropäischer Prägung nicht dem Untergang zu weihen - auch wenn es an seinem ursprünglichen Ort so existenziell bedroht war.

Das Ehepaar Gottlieb hatte mehrere Möglichkeiten, Zuflucht zu finden. Am liebsten wäre Freema Gottliebs Vater ins heutige Israel - damals noch Palästina - gegangen. Aber darauf hat er verzichtet, erzählte Gottlieb. Er habe seine Blanko-Einsreisepapiere für Israel einem Kollegen gegeben, der sonst keine Möglichkeit zur Ausreise gehabt habe. So ging das Paar sie nach England, wo sie Kinder aus der Wiener Synagoge betreuten, die mit einem Kindertransport nach England gekommen waren. „Meine Eltern haben dann eine Art Internat betrieben und einige dieser Kinder dort betreut.“

Niemand durch „die Brille der Schoa sehen“

Als Tochter eines Rabbiners hat Gottlieb auch die religiöse Praxis des Judentums intensiv erlebt und spricht mit viel Zuneigung über ihre Eltern. Auf die Frage nach ihrer Religiosität heute, im fortgeschrittenen Alter, antwortete sie differenziert. „Die Liebe Gottes - das bedeutet meine Religion für mich. Und diesem Teil meiner Religion fühle ich mich von ganzem Herzen verbunden. Aber es gehört auch dazu, sehr viele Regeln und Gesetze einzuhalten. Und das finde ich wirklich schwierig - weil ich eigentlich ein sehr chaotischer Mensch bin.“

Sendungshinweis

Praxis - Religion und Gesellschaft 11.5.2016, 16.00 Uhr, Ö1

Im Umgang mit der Geschichte plädiert Freema Gottlieb dafür, das Judentum nicht durch die Erfahrung der Schoa zu definieren, auf die Erfahrung von unsagbar grausamer Verfolgung und versuchter Auslöschung. „Ja, sie haben Grauenvolles erlebt, sie sind in den Gaskammern gestorben. Man muss es so drastisch sagen. Aber zumindest ein Teil dieser Menschen hat auch gute, wunderbare Zeiten erlebt. Und wenn man irgendwie an eine andere Welt glaubt, dann sollte man so an sie denken. An Menschen, die etwas Schönes erlebt haben. Nicht die Opfer und auch sonst niemand sollte nur durch die Brille der Schoa gesehen werden.“

Keine Anklage, sondern Bewusstsein

Was die sogenannte Vergangenheitsbewältigung zur Aufarbeitung der NS-Geschichte in den Ländern der Täter betrifft, hat sie ebenfalls eine differenzierte Sicht. „Ich glaube, es geht für die Menschen darum, mit ihren aktuellen Herausforderungen zurechtzukommen. Mit den Dingen, die sie persönlich zu bewältigen haben, aber auch mit Problemen, die ihre jeweilige Gesellschaft betreffen, ihr Land. Dafür braucht es viel Energie“, so Gottlieb.

Daher solle die Vergangenheit keine schwere Last sein, die Energie wegnimmt. Und auch Religion sollte nach Ansicht der Autorin nach keine Last sein. Allerdings sollten die Menschen die Vergangenheit auch nicht aus dem Blick verlieren, denn es gelte, daraus zu lernen. „Es geht darum sich zu erinnern, im Bewusstsein zu haben, wie kostbar ein Menschenleben ist. Es geht aber NICHT darum, jemanden mit der Vergangenheit zu belasten. Auch nicht, wenn jemand in deren Familie schuldig geworden ist“, so Gottlieb. Es gehe nicht um Anklage, sondern um ein Bewusstsein.

Brigitte Krautgartner, Nina Goldmann, religion.ORF.at

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