Lein: Eine leichte Lösung gibt es nicht

Mit einem Gottesdienst und einem Gartenfest feiert die Wiener Evangelische Kirche A.B. das 70-jährige Bestehen ihrer Superintendentur. Zu diesem Anlass bat religion.ORF.at Superintendent Hansjörg Lein um eine Standortbestimmung.

Ende des Zweiten Weltkriegs gehörten Kärnten, Steiermark, Niederösterreich und Wien zu einer großen evangelischen Diözese A.B. 1946 wurde dann die Wiener Superintendenz davon abgetrennt. Seit zwölf Jahren steht dort Hansjörg Lein als Superintendent an der Spitze. Ein Interview zum 70-Jahre-Jubiläum der Superintendenz Wien.

Herr Superintendent Hansjörg Lein, dürfen wir Sie um eine Standortbestimmung der evangelischen Christen A.B. in Wien bitten?

Hansjörg Lein

epd

Hansjörg Lein, Superintendent der Evangelischen Kirche A.B. in Wien

Wir evangelische Christen sind sehr interessiert an allen gesellschaftlichen Fragen, daran mangelt es ja im Moment nicht. Wir bringen uns gern in den Diskurs ein, wir wollen alles sehr wachsam verfolgen. Eigentlich nennen wir uns gerne Protestanten, mit gutem Grund, da wir schon seit vielen Jahrhunderten sozusagen gegen Dinge protestieren, mit denen wir nicht einverstanden sind. Wir bezeichnen uns als eine sehr offene Gemeinschaft oder religiöse Gruppe. Bei uns spielt das Thema Freiheit eine große Rolle.

Aber trotz „Freiheit“ und Nähe zur Gesellschaft verlassen viele Menschen die Evangelische Kirche A.B.

Das ist ein sehr schwieriges und auch schmerzliches Thema für uns. Gerade in Wien durch die Anonymität und teilweise nicht mehr so enge Zugehörigkeit zur Kirche ist die Tendenz tatsächlich steigend, aus der Kirche auszutreten. Wir wissen leider über die Hintergründe dieser Austritte sehr wenig, wir haben Vermutungen, jedoch gibt es leider keine stichfeste Analyse. Die Anonymität ist ein großes Problem, aber auch sicher das Geld. Es ist verständlich, dass immer mehr Menschen, besonders junge Menschen, nicht mehr bereit sind, einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens an eine Organisation zu zahlen.

Wie geht es Ihnen an der Spitze der Wiener evangelischen Christen A.B. ?

Es ist tatsächlich eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, ein Leitungsamt in der Kirche inne zu haben. Ich selbst bin ein Pfarrerssohn aus Kärnten und kenne die Kirche sozusagen von klein auf. Ich bin der Seelsorger der Seelsorger und Seelsorgerinnen, wobei man hier auch offen sagen muss, dass man in einer gewissen Spannung steht, da ich gleichzeitig auch Vorgesetzter bin. Ich führe regelmäßige Mitarbeitergespräche, wie kann jedoch ein Pfarrer und eine Pfarrerin im Konfliktfall zu mir kommen, wenn ich doch auf der anderen Seite der direkte Vorgesetzte bin? Das ist manchmal nicht leicht unter einen Hut zu bringen. Ein ungelöster Konflikt in diesem Amt.

Sind Sie so etwas wie der „oberste Gläubige“?

Ich bin kein besserer Christ oder der oberste Christ von allen, ich sehe mich auf derselben Ebene wie alle anderen, sowohl mit meinem eigenen Glaubensleben als auch mit meinen Krisen und Zweifeln. Ich gehe regelmäßig in Supervision, was mir wichtig erscheint, lasse mich dort professionell begleiten und kann meine Sorgen aussprechen. Ein evangelischer Beichtvater oder eine Beichtmutter wäre ab und an was Brauchbares, diese Rolle fehlt klar im Evangelischen. Eine große Stütze ist meine Frau sowie meine Familie und Freunde.

Wie ist Ihre Meinung zur politischen Entwicklung in Österreich? Wie anfällig sind evangelische Christen für Populisten?

Nicht nur ich beobachte die derzeitige Entwicklung mit großer Sorge. In ganz Europa beobachten wir ja einen eindeutigen Rechtsruck, hier sind wir gerade als evangelische Gläubige besonders wachsam, da in der Zeit des Nationalsozialismus die evangelische Kirche sehr anfällig war. Ich muss es leider zugeben, dass wenn man sich die Wahlergebnisse ansieht, auch in den Hochburgen der evangelischen Kirche in Österreich ein hoher Anteil an Wählern und Wählerinnen die Partei wählen, die sehr viel Hass schürt.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“: Wie kompromisslos muss Hilfe für Flüchtlinge sein? Wo ist die Grenze bei der Nächstenliebe?

Im Alten Testament gibt es viele Stellen, an denen das Volk Israels von Gott daran erinnert wird, dass sie selbst Geflüchtete sind und sie Fremde in ihren eigenen Reihen nicht unterdrücken sollen. Wir haben auf unserer Synode heiß diskutiert, wie wir zu diesem globalen Thema stehen, und konnten uns dann darauf einigen, dass wir als evangelische Kirche bereit sein wollen, uns nach unseren Möglichkeiten einzusetzen.

Ich habe selbst eine Familie aus Damaskus im November aufgenommen und mache sehr interessante und gute Erfahrungen. Sie sind schon Teil der Familie geworden. Ich bin kein Fantast, ich sehe schon, dass es schwieriger wird. Eine leichte Lösung gibt es nicht. Die Menschenrechte sind für uns unantastbar. Wir sind verpflichtet, Menschen, die flüchten, weil sie um ihr Leben bangen, auch aufzunehmen. Eine Obergrenze kann ich nicht befürworten. Das würde den Menschenrechten widersprechen.

Mit den Flüchtlingen, unter ihnen auch viele Muslime, ist die Burka-Burkini- und Kopftuch-Debatte wieder aufgeflammt. Ihre Meinung dazu?

Gegenüber der muslimischen Gemeinschaft haben wir uns als evangelische Kirche auf den Weg gemacht und haben eine Orientierungshilfe ausgegeben. Vielfach kennen wir den Islam und unsere muslimischen Mitmenschen viel zu wenig. Ein Kopftuch oder eine teilweise bestehende Verhüllung des Körpers regt oft mehr auf als Themen, die im Kopf eines Menschen vorgehen.

Für mich gehört es zur grundsätzlichen Freiheit, dass sich Menschen kleiden können, so wie sie es für richtig halten. Diese Freiheit ist für mich selbstverständlich. Auch am Arbeitsplatz und in Schulen muss diese Freiheit gewährleistet sein. Es kann nicht sein, dass hier ein Kopftuchverbot ausgesprochen wird, das ist ganz klar. Ich versuche weitestgehend tolerant zu sein.

Mit der Ganzkörperverhüllung hab ich aber schon meine Probleme, denn das Vermummungverbot ist für mich höher als die Freiheit des Menschen zu stellen, ich möchte ja auch das Gesicht sehen. Wie man das aber rechtlich lösen kann, weiß ich nicht.

Welches Verhältnis haben die evangelischen Christen A.B. in Wien zum Islam?

Das ist sehr unterschiedlich, das merke ich in den Pfarrgemeinden und in den Gesprächen dort. Einige Menschen sind ganz offen, eher die Jungen. Die ältere Generation ist zum Teil überfordert, da diese in der Vergangenheit nicht so unmittelbar mit dem Islam konfrontiert war. Die evangelische Kirche als solche lädt selbstverständlich Muslime zu Veranstaltungen ein. In einzelnen Pfarrgemeinden gibt es Begegnungen, in denen zum Beispiel Musliminnen und Christinnen miteinander kochen und sich so kennenlernen.

Gibt es einen Zusammenhalt der Religionen gegen die säkulare Gesellschaft?

Es ist gerade sehr spannend, weil wir in der Seestadt Aspern schon seit einiger Zeit an einem gemeinsamen Objekt arbeiten, dem „Campus der Religionen“, und wir werden sehen, wie das in den nächsten Jahren verwirklicht werden kann. Wir beobachten, dass die Religionen für den Frieden viel beitragen können. Durch Religionen entstehen nicht nur Kriege, sondern im Gegenteil, Religionen können für Frieden sorgen.

Gibt es für Sie Grenzen von Religion im öffentlichen Raum in Bezug auf religiöse Symbole?

Viele sind der Meinung, Religion sei Privatsache. So kann man das nicht formulieren. Gesellschaft und Religion gehören zum öffentlichen Leben mit dazu. Vor einigen Jahren hatten wir hierzulande die immer wieder aufflackernden, heißen Diskussionen, ob ein Minarett gebaut werden darf. Gerade als Protestanten sind wir dafür. Den Protestanten war es lange Zeit verboten einen Kirchturm zu bauen, aber das gehört einfach zur Gleichberechtigung aller dazu. Ich habe kein Problem, wenn ein Minarett gebaut wird. Doch viele wollen das verhindern.

Ich könnte aber auch gut damit leben, wenn in den Klassenzimmern keine Kreuze hängen würden. Das Kreuz braucht es nicht unbedingt als Wandschmuck, und ich möchte auch niemanden vereinnahmen, für den das Kreuz ein Ärgernis ist. Das ist nicht die wichtigste Debatte, daran hängt das Christsein sicherlich nicht.

Stichwort Reformationsjubiläum 2017, was muss heute in der evangelischen Kirche reformiert oder verändert werden?

Diese Frage stellen wir uns selbst immer wieder. „Ecclesia semper reformanda“ („Die Kirche ist ständig zu erneuern“). Das ist zwar ein schönes Motto, aber in der Realität sind wir dann doch sehr behäbig, und viele stehen auf der Bremse. Die Verwaltung gehört reduziert und vereinfacht. Es ist vieles zu aufwendig organisiert. Außerdem sollte man einige Regelungen lockern. Wir müssen für junge Menschen attraktiver werden. Insgesamt gäbe es eine Fülle von Aufgaben und Erneuerungsbestrebungen.

Einiges haben wir jedoch schon umgesetzt. Zum Beispiel gibt es bei uns schon sehr viele Frauen im Pfarramt. In Wien haben wir genau 50 Prozent Frauenanteil unter den geistlichen Amtsträgern. Wir sind sozusagen Vorreiter, und darum beneiden uns so manche Katholiken. In der Offenheit verschiedenen sexuellen Orientierungen gegenüber, um es so zu nennen, bemühe ich mich sehr in Wien, dass wir alle akzeptieren können und niemanden ausgrenzen.

Wie sehen Sie die Entwicklung Ihrer Diözese in der Zukunft, was wünschen Sie sich?

Wir wollen nach vorne blicken und das Jubiläum auch dafür nutzen. Wir haben ja eine wichtige Aufgabe in der Seelsorge. Ich möchte hier die Krankenhaus- oder Gefängnis-Seelsorge hervorheben. Dort gehen wir zu Menschen, die in einer ganz schwierigen Lebenssituation sind und unsere Hilfe auch gerne annehmen.

Dann haben wir eine große Aufgabe im Bereich Bildung. Die evangelischen Kindergärten und Schule boomen, darf ich wohl ohne Übertreibung sagen. Wir haben in den letzten Jahren einige neue Schulen gebaut. Das wird sehr gut angenommen von der Gesellschaft, weil wir hier eine gute Ausbildung gewährleisten. Mein Wunsch ist es, diese Bereiche in Zukunft weiterzuführen und stetig auszubauen.

Danke für das Gespräch.

Philipp Fessler, Sebastian Holler, religion.ORF.at

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