Vatikan: Müller soll mit Missbrauchsopfern sprechen

Kardinal Gerhard Ludwig Müller solle mit ehemaligen Chorknaben der Regensburger Domspatzen reden, die Gewalt und Missbrauch erlitten haben, hat der Missbrauchsexperte und vatikanische Kinderschutzbeauftragte, Hans Zollner, zu Radio Vatikan gesagt.

Als der Missbrauchsskandal in dem berühmten Knabenchor 2010 bekannt geworden war, hatte Müller - der damalige Regensburger Bischof - eine Aufarbeitung auf den Weg gebracht. Opfervertreter hatten in der Folgezeit jedoch beklagt, nicht angehört worden zu sein und erfolglos um Gespräche mit Müller gebeten.

Opfer anhören wichtig

Die Erfahrung mit Missbrauchsopfern lehre ihn, führte Pater Zollner im Interview mit Radio Vatikan am Mittwoch aus, dass das Gespräch mit Verantwortungsträgern eine heilende Wirkung habe, von der viel Gutes ausgehe. Zollner gilt als einer der führenden kirchlichen Fachleute auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs in der römisch-katholischen Kirche.

Zollner: „Die Betroffenen von Missbrauch wünschen in erster Linie, dass sie angehört werden. Das ist das Allererste und Allerwichtigste, und für manche auch so wichtig, dass sie darüber hinaus andere Dinge wie Therapien oder Entschädigungszahlungen für sich selbst gar nicht wirklich als eine entscheidende Geste ansehen - sondern es dabei belassen, wenn sie wirklich einmal angehört werden. Das ist etwas, was ich jedem Bischof oder Provinzial bei den Fortbildungen, die ich immer wieder halte, sage und sehr ans Herz lege.“

Hans Zollner, Missbrauchsexperte und vatikanischer Kinderschutzbeauftragte

Reuters/Alessandro Bianchi

Hans Zollner, vatikanischer Kinderschutzbeauftragte

Man müsse sich der Sicht des anderen, seiner Wut, seinem Ärger, aber auch seinen Tränen und seiner Verletztheit aussetzen, sagte Pater Zollner. „Da kann dann manchmal auch so viel Gutes geschehen, dass Wege zu einer Heilung sich wenigstens auftun - was dann weiter geschieht, das liegt nicht in unserer Macht.“

Systematik der Gewalt „erschütternd“

Es sei erschütternd, festzustellen, wie systemisch und systematisch der körperliche und sexuelle Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen etabliert gewesen sei, nahm Pater Zollner Bezug auf den Bericht des Anwalts Michael Weber, der am Dienstag seinen Abschlussbericht zur Aufarbeitung eines der größten Missbrauchsskandale in Deutschland überhaupt vorgestellt hatte - mehr dazu in D: 547 Kinder bei Domspatzen missbraucht.

Er selbst stamme aus Regensburg, berichtete Zollner. Indirekt habe er als Jugendlicher den Druck gespürt, unter dem die Kinder bei den Domspatzen gestanden seien. Der Chor sei damals, als er selbst aufgewachsen ist, das Aushängeschild der Stadt und der Region gewesen. Darauf sei sehr viel Wert gelegt worden, und es verschaffte hohes Ansehen, wenn jemand in diesen Chor und in diese Schule gehen konnte, vor allem in den Ersten Chor, so Zollner.

„Ich habe das selbst erlebt, weil ich Klassenkameraden hatte, die nach der Volksschule zu den Domspatzen gegangen sind. Ich habe gespürt, wie stark sie dem Druck ausgesetzt waren, vom Dritten in den Zweiten und dann in den Ersten Chor zu kommen“, erzählte der Jesuitenpater.

Heute nicht „zurücklehnen“

Der Erste Chor, den Georg Ratzinger geleitet hatte, sei der Reise-Chor gewesen und habe Schallplatten und CDs produziert. Zollner wörtlich: „Da wurde so ein Druck aufgebaut, der sich entladen hat, wenn auch nur das Kleinste schief ging. Das Elitedenken, der Korpsgeist, der dort vorhanden war - das ist doch sehr übersteigert gewesen und hatte, wie man das heute sagen würde, sicherlich pathologische Elemente.“

Die Einstellung ungeeigneten pädagogischen Personals, Abhängigkeitsverhältnisse und mangelnde staatliche Kontrolle, aber auch das Ausbleiben von Anzeigen durch Eltern, die von den Zuständen gewusst haben müssen, habe es möglich gemacht, dass der Missbrauch so lange ungeahndet geblieben ist. Doch Zurücklehnen in der Überzeugung, all dies sei heute nicht mehr möglich, gehe nicht.

Gute Aufarbeitung in Regensburg

Laut dem Kinderschutzbeauftragen seien in Deutschland an Missbrauchs- und Misshandlungsfällen allein 2016 12.000 Fälle angezeigt worden. Hinter jedem der so genannten Fälle stehe ein oder stünden mehrere Menschen, wobei „unglaubliches Leid geschieht - und zwar sowohl in Institutionen als auch im familiären Umfeld. Und da muss die Gesellschaft als Ganze auch den Willen haben, sich mit diesen Schicksalen wirklich auseinanderzusetzen.“

Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller

APA/dpa/Andreas Arnold

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: „Opfern nie das Wort verweigert“

Die Diözese Regensburg leiste seiner Einschätzung nach gute Arbeit bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in ihren eigenen Reihen und nehme damit auch in Deutschland sicherlich eine Vorreiterrolle ein, sagte der vatikanischer Kinderschutzbeauftragte.

Auch die Kirche in Deutschland als Ganzes habe mit der Einrichtung von Präventionsbeauftragten, der Schulung von Personal und der Erstellung strenger Leitlinien schon viel getan. Anderes bleibe aber auch noch zu tun, erklärte der Jesuit weiter. Weiterhin müssten Personen geschult und Strukturen verändert werden. „Dazu müssen wir vor allem auch schauen, dass das, was gesagt und geschrieben wird, in den Gesetzen, den Normen und Leitlinien, tatsächlich auch umgesetzt wird und nicht nur auf dem Papier bleibt.“

Müller: Empfinde Scham und leide mit

In der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“ (Donnerstag-Ausgabe) sagte Kardinal Müller, er empfinde „Scham für das, was in der Kirche passiert ist“. „Als Kirchenmann ist das Leid der Opfer, ihrer Familien und Gemeinden auch mein Leid“, so Müller.

Zugleich bekräftigte er seine Null-Toleranz-Linie: Missbrauch sei das „schwerste Vergehen“ und die Kirche nicht „irgendeine weltliche Institution“. Nur durch Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit könne die Kirche „den körperlichen und spirituellen Schaden, den die Opfer erlitten, heilen, soweit das möglich ist“, so Müller.

„Opfern nie das Wort verweigert“

Er habe immer daran geglaubt, „dass Barmherzigkeit in der Kirche nicht ohne wahre Gerechtigkeit möglich ist“. Dies gelte auch mit Blick auf die Arbeit der vatikanischen Glaubenskongregation, die auch für die innerkirchliche Strafverfolgung schwerwiegender Delikte wie Kindesmissbrauch zuständig ist. Für ihn habe bei jedem Prozess bis zum Ende die Unschuldsvermutung gegolten, „doch gleichzeitig habe ich nie einem Opfer das Wort verweigert“. Müller stand bis Anfang Juli fünf Jahre an der Spitze der Behörde.

religion.ORF.at/KAP

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