Zulehner: Kirchen nahe an „biblischem Normalfall“

Die christlichen Kirchen näherten sich wieder „dem biblischen Normalfall“ - nämlich als Minderheit in der Gesellschaft „Licht der Welt“ und „Salz der Erde“ zu sein, sagte der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner angesichts einer Studie über Religionen in Österreich.

Wie der Wiener Pastoraltheologe und Religionssoziologe - das Neue Testament zitierend - zur neuen Religionsstudie im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) erklärte, sei ein 100-Prozent-Anteil an Christen in der Gesellschaft „nicht das Leitbild Jesu für seine JüngerInnenbewegung“ gewesen.

Zulehner ortet „Schwäche“ bei Studie

Die vorliegende Studie „Demographie und Religion in Österreich“ vom Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat laut Zulehner die „Schwäche, dass nur mit der formellen Mitgliedschaft operiert wird“. Das führe leicht zu einem schablonenhaften Blick etwa auf aus der Kirche Ausgetretene oder auch Muslime.

Zum abnehmenden Katholikenanteil an der Bevölkerung sagte Zulehner am Freitag gegenüber Kathpress, die Formel „nur noch“ sollte künftig vermieden werden: „Diese Benchmark orientiert sich an vergangenen Zeiten, wo 100 Prozent der politisch wie pastoral idealisierte Normalfall waren.“ Wer sich daran orientiere, „wird in den nächsten Jahren depressiv herunterrechnen, von 75 auf 54 oder 30, wie in Wien“.

Die am Freitag veröffentlichte Studie verwies auf den seit der Volkszählung im Jahr 2001 von drei Viertel auf nunmehr zwei Drittel gesunkenen Katholikenanteil, bis 2046 werde der Prozentsatz auf unter 50 Prozent sinken- mehr dazu in Anteil der Muslime in Österreich bei acht Prozent.

„Nicht nur formelle Mitgliedschaft berücksichtigen“

Dazu äußerte Zulehner, es greife zu kurz „und ignoriert die heutige Vielfalt an religiösen und spirituellen Formen“, nur die formelle Mitgliedschaft zu berücksichtigen. Viele der Ausgetretenen etwa seien keineswegs erwartungslos gegenüber einer religiösen Gemeinschaft. Der Theologe zog hier eine Parallele zur Gewerkschaft, aus der in den letzten Jahren ebenfalls viele austraten. Viele von ihnen erwarteten aber weiterhin, dass die Gewerkschaft einen soliden Beitrag für die arbeitende Bevölkerung leistet.

Theologe Paul Michael Zulehner

Kathpress/Franz Josef Rupprecht

Theologe Paul M. Zulehner

„Ähnlich ist es mit dem Kirchenaustritt“, so Zulehner. Nach seinen Studien hätten nicht wenige der sogenannten Konfessionslosen eine starke Spiritualität, seien Skeptiker oder Suchende, aber keinesfalls „säkularisiert“. Die Säkularisierungsthese werde nicht umsonst in der seriösen Religionsforschung nicht mehr verwendet; „lediglich Kirchenleute, welche die Gründe für die Entwicklung nur bei den anderen suchen, vertreten sie standhaft“.

Viele „pragmatische Gottvergesser“

Die Konfessionsfreien dürften jedenfalls nicht vorschnell als Beleg für einen Bedeutungsverlust von Religion genommen werden, warnte Zulehner. „Natürlich gibt es einen atheisierenden Strang auch in Österreich. Überzeugte Atheisten sind aber selten, pragmatische Gottvergesser eher mehr.“

Auch der Islam werde in der Studie „viel zu monolithisch gesehen“. Das entspricht nach Einschätzung Zulehners dem „derzeitigen politischen Missbrauch in der Islamdebatte“. Seine eigene Studie zu den Muslimen in Österreich, welche die Entwicklung in drei Generationen verfolgt, zeige, „dass es viele Ramadan-Muslime gibt, wie im Land ja auch nicht wenige Kulturchristen leben, welche ohne ein persönliches Gottverhältnis für die Rettung des christlichen Abendlandes kämpfen“.

„Ramadan-Muslime“ und „Kulturchristen“

Nachweislich ist laut dem Wiener Theologen auch eine große Generationenkluft unter Muslimen. Junge Muslimas der zweiten Generation hätten dieselben vielfältigen Frauenbilder wie die einheimischen Mädchen. Auch deren Kinderwunsch habe sich nach unten hin angeglichen. Zulehners Prognose: „Muslimas werden das ‚christliche Abendland‘ vorhersehbar nicht ‚niedergebären‘.“

Dank gebühre den Autoren der Studie des Integrationsfonds allerdings dafür, dass belegt werde, „dass die Zeit der Privatisierung der Religion paradoxerweise vorbei ist“. Die Religion sei auf die öffentliche, damit auch politische Bühne zurückgekehrt. Schon allein das mache es schwer, die bisherigen Trends einfach zu verlängern.

„Heilsalz in gesellschaftlichen Suppen“

Zur Zukunft des Christentums in der österreichischen Gesellschaft meinte Zulehner, an dem, was sich dazu Bekennende glaubwürdig leben, könne abgelesen werden, „was Gott mit allen Menschen im Sinn hat: dass sie zu solidarisch liebenden Menschen heranreifen“.

Die Kirche könne „wie Heilsalz in den gesellschaftlichen Suppen“ wirken, den Geschmack der Menschlichkeit verleihen, von Ängsten heilen und damit auch als Minderheit Wertvolles beitragen. Vor allem das biblische Bild vom Salz könne für die Kirchen entlastend sein, so Zulehner: „Wer kocht, kommt nicht auf die Idee, so viel Salz in die Suppe zu geben, dass Suppe und Salz identisch sind.“

„Warum Kirche mittragen?“

Religionssoziologisch plausibler als auf schwindende Mehrheiten zu starren ist es nach den Worten Zulehners zu fragen, welche Gratifikationen - also: „Warum lohnt es sich für mich, mich der Kirche anzuschließen, bei ihr zu bleiben, sie mitzutragen?“ - Menschen an die Kirche binden könnten.

„Dazu braucht es vor allem Glaubwürdigkeit, die laut Studien eng an die Erfahrung einer spirituell sowie solidarisch starken Kirche gebunden ist.“ Der Pastoraltheologe ist überzeugt, dass die christlichen Kirchen - wie alle Religionen, aber auch die Gewerkschaften und politischen Parteien - künftig von 0 Prozent hinauf- statt von vergangener Größe herunterrechnen „und sich an den überschaubaren Erfolgen freuen“.

religion.ORF.at/KAP

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