Expertinnen: Kopftuchstreit lenkt von Ungleichheit ab

Dem „Kopftuch als Projektionsfläche“ war am Dienstag eine Tagung in der Arbeiterkammer Wien (AK) gewidmet. Die Expertinnen aus Österreich und Deutschland waren sich einig, dass der Fokus auf das muslimische Kopftuch den Blick auf Ungleichheiten verstelle.

Das Kopftuch sei gemeinsam mit Migration 2017 ein zentrales Wahlkampfthema gewesen und habe „konservativer populistischer Politik“ den Rücken gestärkt, sagte Ingrid Moritz, Abteilungsleiterin Frauen und Familie in der AK Wien. Frauen, die das Kopftuch nicht freiwillig tragen, bräuchten Unterstützung, forderte Moritz. Doch Unterstützung bräuchten auch jene Frauen, die es freiwillig tragen. Moritz plädierte für das Selbstbestimmungsrecht der Frau.

In der politischen Diskussion sei, so Moritz, „ungehemmt Hass geschürt worden“ und negativer Höhepunkt seien jüngst die Internet-Hassbotschaften gegen das Wiener Neujahrsbaby Asel und seine kopftuchtragende Mutter gewesen.

Ausschluss von Musliminnen

Kopftuch- oder Vollverschleierungsverbote wurden in der Vergangenheit in vielen europäischen Länden diskutiert und teilweise umgesetzt. Auch in Österreich, wo 2017 ein Anti-Gesichtsverhüllungsverbot eingeführt wurde. Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer von der Universität Wien sieht in der oft heftig emotional geführten Debatte um muslimische Körperverhüllungen eine neue Form des Ausschlusses von Musliminnen. Wer sich nicht „enthüllen“ wolle, gelte als nicht integriert, gehöre sozusagen nicht zu europäischen Gesellschaften dazu.

Veranstaltung zum Thema Kopftuch als Projektionsfläche in der Arbeiterkammer Wien

ORF/Clara Akinyosoye

Die Diskussionsveranstaltung zum Thema Kopftuch war gut besucht

„Insgesamt sehe ich in der Diskussion eine Instrumentalisierung des Körpers von Frauen, gleichsam ein Schlachtfeld um Migration und Integration“, stellte Sauer fest. Auch würde mit der Debatte oft das Ende von Gleichstellungspolitiken legitimiert, „weil ja unsere Frauen schon so gleichberechtigt sind“, sagte Sauer. Keynote-Speakerin Gabriele Dietze von der Humboldt Universität Berlin sagte in Hinblick auf Verschleierungsverbote, Sexualpolitik werde als Mittel der Migrationsabwehr eingesetzt.

Kopftuchstreit statt Lohnschere-Debatte

Die kulturelle „Arroganz“ des Westens lebe davon, ein „Außen“ zu definieren. Zentrales Mittel für die Definition des anderen sei die Sichtbarkeit - das Kopftuch ist damit ein Zeichen der Differenz, stellte Dietze fest. Sie analysierte unter anderem gängige Argumente rund um die muslimische Kopfbedeckung. Welches Argument gerade das wichtigste sei, hänge dabei von der politischen Großwetterlage ab, stellte Dietze fest. „Das Kopftuch wird als Unterwerfung der muslimischen Frau und als Verzicht der sexuellen Selbstbestimmung interpretiert.“

Die Freiheit der westlichen Frau werde aber nicht durch die Sichtbarkeit des Kopftuchs mancher eingewanderten Frauen bedroht. Die Fixierung auf das Kopftuch verhindere aber, dass Machtdifferenz und Ungleichheit aller Frauen von der Agenda verschwinden, sagte Dietze und sprach in ihrem Vortrag den bestehenden Gender-Pay-Gap in Österreich an. Was die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern betrifft, rangiert Österreich im Europavergleich nämlich auf dem vorletzten Platz vor Estland.

akin, religion.ORF.at/APA

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