„Anschluss“: Startschuss für organisierte Judenhatz
Mit dem „Anschluss“ begann die immer offenere Verachtung der jüdischen Bevölkerung, die im November 1938 in die Novemberpogrome mündeten. Das NS-Regime organisierte im gesamten Gebiet des damaligen Deutschen Reichs Gewaltakte gegen Juden. Zahlreiche Synagogen, Beträume, Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden niedergebrannt, zerstört und geplündert, Tausende Juden verhaftet und ermordet.
Zum Gedenken dieser Gräuel werden im Vorfeld Dokumente und Zeugnisse über den jüdischen Leopoldstädter Tempel gesucht, der in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 zerstört wurde. ESRA, das auf dem Areal des Tempels steht, sucht Menschen, die Erinnerungen an die einst größte österreichische Synagoge und die Institutionen, die mit ihr verbunden waren, haben.
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Erinnerungen teilen
Zeugen, auch Nachkommen, die Erzählungen, Ausschnitte aus Briefen, Tagebüchern oder Fotos weitergeben können, werden gebeten, sich bei ESRA zu melden. Dabei geht es nicht nur um Zeugnisse verfolgter Juden, sondern auch damaliger Nachbarn oder Passanten.
Hinweis
Sollten Sie Fotos, Briefe, Tagebucheinträge über den Leopoldstädter Tempel haben, können Sie diese per E-Mail an office@esra.at schicken.
Gebraucht werden sowohl Erinnerungen an die intakte Welt als auch an die zerstörte. 1858 wurde der Große Leopoldstädter Tempel im maurischen Stil fertiggestellt. Er bot 2.000 Menschen Platz. In der Zeit bis zu seiner Zerstörung bestand dort ein reges Gemeindeleben mit einer israelitisch-theologischen Lehranstalt, einem jüdischen Kinderheim und einem Kinderspital.
Reges Gemeindeleben vor Pogromnacht
1938 bis 1945 existierten auf dem Areal die letzten Einrichtungen der jüdischen Gemeinde für die noch in Wien verbliebenen jüdischen Kinder. In der Zeit nach dem Krieg, 1945 bis in die 1960er Jahre, lagen noch jahrelang die Trümmer des Tempels.
Heute befindet sich an der Stelle ein orthodoxes Bethaus, ein Wohnhaus, eine Arztpraxis und das sozialmedizinische Zentrum ESRA. Die Einrichtung für die Betreuung der NS-Überlebenden und deren Nachkommen wurde 1994 von der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) und der Stadt Wien gegründet. Ein multiprofessionelles Team kümmert sich heute um psychosoziale Fragen von Jüdinnen und Juden in Wien und auch um jüdische Migranten.
Warum Gedenkveranstaltungen wichtig sind, begründete Peter Schwarz, Geschäftsführer von ESRA damit, dass Gedenken keine rückwärtsgewandte Angelegenheit, sondern eine Beschäftigung auch mit Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft darstellten. Dadurch werde der Blick nach hinten zu einem geschärften Blick nach vorne. Die Menschen, die verfolgt, gefoltert und ermordet wurden, sollten nicht vergessen werden. Denn das „würde einen ‚Erfolg‘ der Verfolger darstellen“.
APA/Herbert Pfarrhofer
Für Beginn von Menschenverachtung sensibilisieren
Gedenkveranstaltungen wie diese könnten zur (Wieder-)Erlangung des in vielen Fällen verlorenen oder beschädigten Vertrauens in die heutige Gesellschaft, in das Umfeld beitragen. „Es ist wichtig, heutige Generationen für den Anfang von Menschenverachtung und Entwürdigung zu sensibilisieren. Nur wenn es dafür ‚Antennen‘ gibt, kann erkannt werden, wenn im politischen Diskurs, in der Gesellschaft Tendenzen auftreten, die vergleichbar sind mit Entwicklungen, die am Anfang des Aufstiegs des Faschismus im letzten Jahrhundert standen“, so Schwarz gegenüber religion.ORF.at.
Tempelgasse 3-5 als Memorial
Anlässlich von 80 Jahren „Anschluss“ tritt ESRA verstärkt als Erinnerungsort auf. So wurden auf dem Zaun des Geländes Text-Bild-Tafeln angebracht, die über die Geschichte des Tempels bis in die Gegenwart Auskunft geben. Bis November soll im Innenraum des Zentrums ein Keramikmodell der Synagoge aufgestellt werden. Und für die Veranstaltung am 10. November ist die Anbringung einer bedruckten Bauplane in Originalgröße geplant.
Die Veranstaltung im November wird in Kooperation mit der IKG, der Bezirksvertretung Leopoldstadt, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW), der Plattform erinnern.at, dem Jewish Welcome Service, dem Mauthausenkomitee und dem Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus veranstaltet.
Nina Goldmann, religion.ORF.at