Kardinal: Missbrauchskrise war Wendepunkt für Kirche

Die katholische Kirche in Deutschland hat die Dimension des sexuellen Kindesmissbrauchs nach Ansicht von Kardinal Reinhard Marx jahrzehntelang falsch eingeschätzt: Der Wendepunkt sei erst nach Medienberichten erreicht worden, sagte Marx.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz sagte bei einer Diskussion im Rahmen des Deutschen Katholikentags am Donnerstag in Münster, die Berichte über die Fälle am Berliner Canisiuskolleg im Jänner 2010 hätten ein Umdenken eingeleitet. Erst danach habe die Kirche die Perspektive der Opfer wirklich ernst genommen und in den Mittelpunkt gerückt. Zuvor habe man sich auf die Verteidigung und auf das Hinterfragen der Glaubwürdigkeit der Ankläger konzentriert.

Marx betonte, die Kirche müsse das andere Denken, das sie in der Krise „bitter gelernt“ habe, auch in Zukunft beibehalten. „Wir müssen in der Gesellschaft Vorreiter in der Aufarbeitung und in der Prävention von Missbrauch bleiben“, sagte der Kardinal.

Jesuit: Dem Thema jetzt stellen

Der im Auftrag des Papstes weltweit wirkende kirchliche Kinderschutzexperte, Jesuitenpater Hans Zollner, erklärte bei dem Gespräch, die Kirche sei im Umgang mit dem Missbrauch „auf einer anderen Stufe angekommen“. Kirchenführer in allen Ländern müssten sich diesem Thema jetzt stellen. Die Opfer erwarteten von ihnen Gerechtigkeit. Dazu gehöre auch die Bereitschaft, ihnen zuzuhören, wie Papst Franziskus es in vorbildlicher Weise in langen und intensiven Begegnungen wiederholt getan habe.

Theologe: Kirche braucht „Gewaltenteilung“

Bei einem weiteren Katholikentagspodium zur Missbrauchskrise als Anfrage an Theologie und kirchliche Praxis hob der Trierer Diözesanbischof und Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, Stephan Ackermann, hervor, dass die Kirche noch Nachholbedarf beim Umgang mit sexuellem Missbrauch habe. „Wir müssen in Fragen der Transparenz, von Regeln, Machtkontrolle oder Verfahrensabläufen von anderen lernen“, sagte er. Andere Institutionen seien der Kirche um einiges voraus. Es gebe Rechtsstandards, die die Kirche nicht habe. Sie habe keine „Gewaltenteilung“, so Ackermann. Das brauche sie aber.

Die Dimension der Missbrauchsskandale wird Ackermann zufolge erst jetzt in der Tiefe bewusst. Das mache ihre Wucht noch stärker. Vor 2010 sei Macht in der Kirche indes kein Thema gewesen. Auch heute noch sei Präventionsarbeit kein Selbstläufer.

Gesprächen mit Opfern nicht ausweichen

Michael Schüßler, Pastoraltheologe aus Tübingen, sagte, die Kirche dürfe dem Gespräch mit den Opfern nicht ausweichen. Das kirchliche Lehramt hatte seinen Worten zufolge keine Berührungsängste, die intimsten Bereiche der Katholiken zu reglementieren. Er sehe hier eine „theologische Schuldgeschichte“. Es sei daher an der Zeit, dass sich die Theologie mit den Missbrauchsskandalen und ihren Folgen auseinandersetze.

Aktueller Fall in Österreich

Das Thema Missbrauch schlägt derzeit auch in Österreich wieder Wellen. Kürzlich wurde der Fall einer Frau bekannt, die jahrelang als junges Mädchen in einem kirchengeführten Erziehungsheim in Hollabrunn von dem dort tätigen Kaplan zu sexuellen Handlungen genötigt und zweimal geschwängert worden war. Der an anderer Stelle immer noch tätige Geistliche hat die Vaterschaft anerkannt, die Frau wurde nach eigenen Angaben aber von Kardinal Christoph Schönborn dazu gedrängt, die Kinder zur Adoption freizugeben.

Darüber hinaus besteht der Verdacht, dass der damals Jugendlichen und anderen Mädchen in dem Heim regelmäßig Eizellen entnommen worden sind und die Mädchen mit Hormonen behandelt wurden, wie die Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt berichtete.

religion.ORF.at/KAP/KNA

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