Missbrauch in der Kirche: Wer zahlt?

3.015 Personen haben sich seit 2010 mit Missbrauchsvorwürfen bei der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft der Österreichischen Bischofskonferenz gemeldet. Weltweit hat die Kirche Verantwortung für Missbrauchsfälle zu tragen. Wer bezahlt in Österreich dafür?

Seit Jahren berichten Personen von sexuellem Missbrauch und physischer sowie psychischer Gewalt in Einrichtungen der Kirche. Betroffen sind Kinderheime, Internate, Schulen und andere kirchliche Orte. Nach dem Aufkommen ab Mitte der 1990er Jahre und nachdem die Kirche die Berichte öffentlich ernstnahm (jahrzehntelang wurden Täter lediglich versetzt und der Missbrauch vertuscht), wurde 2010 von der Österreichischen Bischofskonferenz die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft („Klasnic-Kommission“) ins Leben gerufen.

Seither haben dort Opfer die Möglichkeit, Entschädigungszahlungen und Geld für therapeutische Hilfe von kirchlicher Seite zu erhalten. 78 Prozent der gemeldeten Vorfälle betrafen körperliche Gewalt, 76 Prozent psychische Gewalt und 32 Prozent sexuelle Gewalt (Mehrfachnennungen waren möglich). Obwohl seitens der Kommission ihre Unabhängigkeit betont wird, wird diese von vielen Opfern angezweifelt.

Ein Gebäude mit einem Kreuz vor einem großen Stück Himmel

APA/AFP/Brendan Smialowski

Der Großteil der Betroffenen war nach Angaben der Opferschutzanwaltschaft in der Zeit des Übergriffs sechs bis zwölf Jahre alt (61,1 Prozent), 23,2 Prozent waren 13 bis 18 Jahre alt.

Vierstufiges Modell

Die ehrenamtlich arbeitende Kommission sieht ein Vier-Stufen-System vor, wonach Zahlungen getätigt werden. Die vorgeschlagenen Beträge verstehen sich laut Kommission als Richtwerte für reine Schmerzensgeldzahlungen. Therapiekosten, die auch ein Mehrfaches betragen könnten, würden gesondert abgegolten, heißt es auf der Website.

Während etwa in den USA aufgrund einer anderen Rechtslage teilweise Millionenbeträge an einzelne Missbrauchsopfer gezahlt werden, und einzelne Diözesen deswegen in Konkurs gegangen sind, sieht die österreichische Kirche eine bescheidenere Abgeltung vor. Die vier Stufen sollen Schwere, Dauer und Folgen der Übergriffe berücksichtigen.

Stufe eins sieht 5.000 Euro, Stufe zwei 15.000 und Stufe drei 25.000 Euro vor. Stufe vier gilt für „darüber hinaus gehende finanzielle Hilfestellungen in besonders extremen Einzelfällen“. Zum Vergleich: In Wien gibt es ein ähnliches Modell vonseiten der öffentlichen Hand bei Missbrauchsfällen in Einrichtungen der Stadt Wien. Laut Klasnic-Kommissionspressesprecher Herwig Hösele sind 66,4 Prozent der Betroffenen, die sich gemeldet haben, Männer, 33,6 Prozent Frauen.

Täter oder Diözesen zahlen

Die Zahlungen für Entschädigungen und Therapiestunden werden über die Stiftung Opferschutz abgewickelt, die von der Österreichischen Bischofskonferenz und den Ordensgemeinschaften Österreichs (Frauen- und Männerorden) finanziert wird.

Nach der Zahlung holt sich die Stiftung das Geld von den betreffenden Diözesen wieder zurück, bzw. wird aufgerechnet, wie viel eine Diözese oder Ordensgemeinschaft der Stiftung beisteuern muss. Sehr oft sind laut Paul Wuthe, Pressereferent der Österreichischen Bischofskonferenz, die Täter nicht mehr am Leben, in dem Fall werde aus dem Budget der Diözesen bezahlt.

Gemäß Beschluss der Bischofskonferenz würden die Mittel für Hilfszahlungen und Therapiekosten nicht aus dem Kirchenbeitrag, sondern aus sonstigen Einnahmen wie Mieten, Pachten oder Liegenschaftsverkäufen der Diözesen bzw. Orden kommen, betonte Wuthe. Wenn ein Täter noch lebe, könne die Rückzahlung über ihn abgewickelt werden - das heißt, die konkreten Täter bzw. einzeln auch Täterinnen, bezahlen für ihre Taten selbst.

3.015 Opfer haben sich gemeldet

Seit ihrem Bestehen hat die Unabhängige Opferschutzkommission eigenen Angaben zufolge bis 31.12.2018 insgesamt 1.974 positive Entscheidungen getroffen. 3.015 Betroffene haben demnach Vorfälle gemeldet, die sich in 635 kirchlichen Einrichtungen ereignet haben. Von den 3.015 Meldungen wollten laut Hösele etwa 800 Personen keine finanziellen oder therapeutischen Hilfeleistungen, sondern nur eine Mitteilung machen oder eine Entschuldigung eines Pfarrers. Einige hätten andere Glaubensgemeinschaften oder Gebietskörperschaften und Vereine betroffen.

241 Anträge wurden demnach abgelehnt, die anderen Opfer erhielten einmalige Zahlungen und eventuellen Kostenersatz für Therapien zugesprochen. Personen, die in kirchlichen Heimen missbraucht wurden, können zusätzlich eine staatliche Heimopferrente beantragen, die erst bei Pensionsantritt ausgezahlt wird und derzeit 309 Euro monatlich beträgt.

Kirche zahlte bisher 27,260 Millionen Euro

Den Opfern wurden aktuellen Angaben der Opferschutzanwaltschaft zufolge bisher insgesamt 27,260 Mio. Euro zuerkannt, davon 21,726 Mio. Euro als Finanzhilfen und 5,533 Mio. Euro für Therapien. Im Durchschnitt ergibt das rund 14.000 Euro pro Person.

Die ebenfalls 2010 gegründete Plattform Betroffene kirchlicher Gewalt kritisierte bereits mehrfach, dass die Kirche die Kosten für die therapeutische Hilfe auf die Krankenkassen und somit auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler abwälze.

Dazu hieß es auf Anfrage von religion.ORF.at von der Kommission, dass die Kommission eine gewisse Anzahl an Therapiestunden genehmigt und die Therapeutinnen und Therapeuten dies direkt mit der Stiftung verrechnen. Dass zusätzlich zu den Therapiestunden, die von der Opferschutzanwaltschaft bezahlt werden, Behandlungen auf Krankenkasse erfolgen können, schloss Pressesprecher Wuthe nicht aus, denn es gebe oft vielschichtige Krankheitsbilder, deren Ursachen multikausal seien, so Wuthe.

„Fachlich nicht zerlegbar“

Nicht alle Probleme könnten auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden, meist seien noch andere Faktoren wie die familiäre Situation usw. für Probleme verantwortlich, sagte Wuthe. Die Folgen von Missbrauch seien „fachlich nicht zerlegbar“ und eine „seriöse Zuordnung nahezu unmöglich“, sagte auf Anfrage der Präsident des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP), Peter Stippl.

Kindheitstraumata könnten jedenfalls ganze Biografien verändern, so Stippl. Man müsse therapeutisch sehr genau schauen, welche Ursachen für welche Symptome verantwortlich seien. So könne es beispielsweise sein, dass ein Burn-out oder Alkoholsucht die Folge eines nicht aufgearbeiteten Missbrauchs sind. Dazu empfiehlt Stippl ein Expertenhearing. Generell rät der nach eigenen Aussagen bekennende Christ der Kirche zu Großzügigkeit.

Keine Doppelfinanzierung

Betroffene können sich laut Kommission aussuchen, welche Therapie sie bei welchem Therapeuten, welcher Therapeutin machen wollen. Der Preis pro Stunde ist mit 100 Euro limitiert. Sollte der Stundenpreis darüber liegen, werde das Kontingent verkleinert. Es werde - je nach Schwere - eine bestimmte Anzahl an Therapiestunden gewährt. Wenn nötig, könnten nach Ablauf des Kontingents weitere Stunden genehmigt werden, ergänzte Wuthe gegenüber religion.ORF.at.

Doppel- oder Mehrzahlungen werden von der Vereinigung Österreichischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auf Anfrage von religion.ORF.at jedenfalls ausgeschlossen.

Klagen möglich, aber aussichtslos

Sollte jemand mit der Zahlung, die die „Klasnic-Kommission“ genehmigt, nicht einverstanden sein, bestehe die Möglichkeit, zivilrechtlich zu klagen, sagte Wuthe. Richterin Barbara Helige bezeichnet einen derartigen Versuch gegenüber religion.ORF.at als „aussichtslos“. Weder finanziell noch psychisch sind viele Missbrauchsopfer in der Lage, diesen Weg zu gehen. Mit 20.000 Euro Kosten müsse man schon rechnen, so Anwalt Öhlinger zu religion.ORF.at. Er hat bereits mehrere Missbrauchsopfer bei Gericht vertreten.

Zudem sind die Vorfälle meist verjährt. Die Möglichkeit, seitens der Beschuldigten, auf die Verjährungsfrist zu verzichten, wurde sowohl von kirchlichen Einrichtungen, als auch von Einrichtungen von Bund, Ländern und Gemeinden, abgelehnt. Außerdem liegt im österreichischen Recht die Beweislast beim Opfer - d.h. der Kläger muss beweisen, dass der Beschuldigte die Taten begangen hat.

14,6 Prozent der gemeldeten Fälle stammen laut Kommission aus den 1950er Jahren und früher, 37,4 Prozent aus den 1960er Jahren, 31,3 Prozent aus den 1970er Jahren, 8,8 Prozent aus den 1980er Jahren, 3,1 Prozent aus den 1990er Jahren und 0,8 Prozent der Fälle ereigneten sich ab dem Jahr 2000. Bei 4 Prozent sind der Opferschutzanwaltschaft die Daten nicht bekannt.

Diözesane Opferschutzstellen und Kommission

Grundsätzlich läuft das Prozedere so ab, dass sich Betroffene an die diözesanen Oferschutzstellen wenden (in jeder Diözese wurde eine solche eingerichtet). Danach entscheidet die Opferschutzanwaltschaft über Höhe und Ausmaß der Entschädigungszahlung - diese kann von der Einschätzung der diözesanen Opferschutzstelle abweichen.

Geleitet wird die Opferschutzanwaltschaft von der ehemaligen steirischen ÖVP-Landeshauptfrau Waltraud Klasnic - daher ist die Einrichtung auch als „Klasnic-Kommission“ bekannt. Mitglieder der Kommission sind unter anderen Brigitte Bierlein, Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes, der Psychiater und Neurologe Reinhard Haller und Udo Jesionek, Präsident der Opferhilfsorganisation „Weißer Ring“.

Nina Goldmann, religion.ORF.at

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