Was hinter der Rücktrittsforderung an den Papst steckt

Der Fall des ehemaligen Erzbischofs von Washington, Theodore McCarrick, hat vorübergehend den Papst persönlich eingeholt. Die Frage, was er über die früheren Verfehlungen des Kardinals wusste, warf ausgerechnet ein Ex-Spitzendiplomat des Papstes auf.

Erzbischof Carlo Maria Vigano war lange Jahre hochrangiger Funktionär im Vatikan und von 2011 bis 2016 Botschafter zweier Päpste in den USA. Er behauptet nun, schon im Sommer 2013 habe er Papst Franziskus persönlich gesagt, dass über McCarrick eine „dicke Akte“ vorliege. Darin sei festgehalten, dass der spätere Kardinal als jüngerer Bischof in Newark mit volljährigen Seminaristen und jungen Priestern homosexuell intim geworden sei.

Papst Benedikt XVI. habe deshalb bereits „um 2008/2009“ versucht, McCarrick zu maßregeln und ihm öffentliche Auftritte untersagt. Franziskus habe ihn ab 2013 jedoch faktisch rehabilitiert, so der Vorwurf Viganos.

Maßregelung durch Benedikt XVI. nie öffentlich

Freilich: Eine Maßregelung McCarricks durch Benedikt XVI. wurde bisher nie öffentlich bekannt. Wenn es sie tatsächlich gab, dann hat sich McCarrick nicht an solche Auflagen gehalten. Noch seltsamer mutet in diesem Zusammenhang an, dass McCarrick - nach dieser vermeintlichen Maßregelung - sogar im Vatikan offiziell auftrat und etwa mit Papst Benedikt XVI. konzelebrierte, wie der US-Journalist Michael Sean Winters (National Catholic Reporter) dieser Tage schrieb.

Breitseite gegen Franziskus

Datiert ist Viganos Dossier auf den vergangenen Mittwoch, veröffentlicht wurde es von Samstag auf Sonntag, genau zur Halbzeit der Irland-Reise des Papstes. Diese war ohnehin überschattet von den Missbrauchsfällen, Misshandlungen und Vertuschungen, die Irlands Kirche sich hat zuschulden kommen lassen. Viganos Anschuldigungen sind eine Breitseite gegen Franziskus’ Schuldbekenntnisse und Versprechen von Besserung.

Erzbischof Carlo Maria Vigano, ehemaliger Vatikanbotschafter in den USA

APA/AFP/Getty Images/Chip Somodevilla

Erzbischof Carlo Maria Vigano

Die Vorwürfe Viganos sind garniert mit Angriffen gegen zahlreiche Bischöfe und Kardinäle im Vatikan und den USA: Sie hätten vertuscht, die „Homosexuellen-Lobby“ oder liberale Bischofsernennungen gefördert. Das elfseitige Dossier gipfelt in dem Aufruf an Papst Franziskus, er möge „seinen Kardinälen und Bischöfen, die McCarricks Missbräuche vertuscht haben, mit gutem Beispiel vorangehen und mit ihnen allen zurücktreten“.

Mischung aus „Fakten, Fiktion und Gift“

Franziskus habe „gespalten, in die Irre geführt und die Wölfe ermutigt, die Schafe der Herde Christi auseinanderzureißen“, schreibt Vigano. Es ist dieser pathetische Ton, vor allem aber sind es die absatzweise ätzenden Pauschalurteile sowie Anspielungen, die Viganos Anschuldigungen vielfach unglaubwürdig machen. Eine Mischung aus „Fakten, Fiktion und Gift“, wie ein Kenner der US-Kirchenszene schreibt. Gleichwohl wirkt es.

Insgesamt sind Viganos Einlassungen Teil einer teils erbittert ausgefochtenen Schlacht von Franziskus-Anhängern und -Gegnern. So spricht etwa der US-Journalist Michael Sean Winters davon, dass die innerkirchlichen Feinde des Papstes diesem den Krieg erklärt hätten. Ein innerkirchlicher Putsch sei im Gange und wenn die US-Bischöfe sich nun nicht geschlossen hinter bzw. vor den Papst stellen, könne die Entwicklung sogar bis hin zu einem Schisma in der US-Kirche gehen, mutmaßt Winters.

„Innerkirchlicher Putsch“

Ein Blick auf die traditionalistische kanadische Website LifeSiteNews.com, die den Text Viganos u. a. veröffentlichte, unterstreicht die Ansicht Winters: Hier überschlagen sich die Aufforderungen an den Papst, zurückzutreten. Ausgetragen wird dieses Aufbegehren gegen den Papst teilweise auf dem Rücken der Missbrauchskrise, oft mit dem Hinweis, Ursache des Missbrauchs sei nicht Klerikalismus, wie Papst Franziskus meint, sondern Homosexualität.

Die Veröffentlichung des Schreibens von Vigano dürfte eine konzertierte Aktion mehrerer Internetportale und Blogs gewesen sein. Diese habe Erzbischof Carlo Maria Vigano in den Wochen zuvor kontaktiert und ihnen von seinen Erfahrungen und Einschätzungen erzählt, berichtet die US-Website OnePeterFive (Dienstag) unter Berufung auf den italienischen Blogger Aldo Maria Valli.

Nachdem die Blogger und Portale zugesagt hatten, das von Viagno verfasste Dossier zu veröffentlichen, habe Vigano als Zeitpunkt der Veröffentlichung Sonntag, den 26. August, bestimmt. Dann, so schreibt Valli, „hat der Papst auf dem Rückweg von Dublin Gelegenheit zur Erwiderung, wenn er Fragen der Journalisten im Flugzeug beantwortet“.

Franziskus setzte Maßnahmen

Erst vor wenigen Wochen hat der Vatikan McCarrick ein Leben in absoluter Zurückgezogenheit verordnet und ihn faktisch gezwungen, auf seinen Kardinalsrang zu verzichten. Franziskus ergriff diese Maßnahme, nachdem glaubhafte Beschuldigungen bekannt wurden, wonach McCarrick vor fast 50 Jahren auch minderjährige Buben missbraucht haben soll.

Papst Franziskus

APA/AP/Andrew Medichini

Unter Beschuss: Papst Franziskus

Dass Franziskus von genau diesen Vorwürfen seit langem gewusst habe, behauptet auch der Ex-Diplomat Vigano nicht. Er legt den Finger auf eine andere Wunde: Der Papst habe Kenntnis vom langjährigen homosexuellen Treiben McCarricks (mit Volljährigen) gehabt und ihn dennoch als Berater und Sonderbeauftragten eingesetzt. Damit habe er ähnlich gehandelt wie vor ihm die Kardinalstaatssekretäre Angelo Sodano (1991-2006) und Tarcisio Bertone (2006-2013): Beide hätten Warnungen über McCarricks „zutiefst unmoralisches Verhalten“ einfach ignoriert.

Winters stimmt Viganon hinsichtlich der unrühmlichen Rolle der Staatssekretäre zu, hält es aber für seltsam, dass Vigano den Krakauer Kardinal Stanislaus Dsiwisz nicht erwähnte, dem eine Schlüsselrolle hinsichtlich der schützenden vatikanischen Hand über McCarrick zukam.

Ungereimtheiten und Aufklärung

Kenner der Kirchenszene im Vatikan wie in den USA weisen auf etliche Ungereimtheiten des Dossiers hin. Und darauf, dass Vigano in Sachen Aufarbeitung von Missbrauch „eigene Leichen im Keller“ habe. So soll er den früheren Weihbischof Lee Piche von St. Paul und Minneapolis aufgefordert haben, Akten für eine Untersuchung gegen seinen Erzbischof John Nienstedt zu zerstören. Beide traten 2015 zurück. Vigano hat unterdessen in einer weiteren öffentlichen Stellungnahme, die wieder auf LifeSiteNews.com veröffentlicht wurde, die Vorwürfe zurückgewiesen.

Auch wenn Vigano als ein solcherart eifernder Franziskus-Kritiker auftritt - seine Ausführungen ausschließlich als enttäuschte Gesamtabrechnung eines gefrusteten früheren Angestellten abzutun, wäre falsch. Die Vertuschungsvorwürfe des früheren Nuntius verlangten schlüssige Antworten, die auf Beweisen beruhen, erklärte Kardinal Daniel DiNardo, Vorsitzender der US-Bischofskonferenz, in Washington.

„Ohne diese Antworten werden unschuldige Männer von den Anklagen beschmutzt und die schuldigen können die Sünden der Vergangenheit wiederholen.“ Er hoffe auf eine baldige Audienz bei Papst Franziskus und dessen Zustimmung zu Plänen der US-Bischofskonferenz für ein schärferes Vorgehen gegen Bischöfe, die Missbrauch begangen oder vertuscht haben, so DiNardo.

religion.ORF.at/Roland Juchem und Georg Pulling, KAP

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