Warum uns Kirchen wichtig sind
Als vor einigen Woche Notre-Dame in Flammen stand, waren die Reaktionen stark und emotional: Von „gebrochenen Herzen“, „Stich ins Herz“, „Schmerz“ und Ähnlichem war die Rede, als die gotische Kathedrale in Paris brannte. Menschen in aller Welt, und bei Weitem nicht nur Gläubige, zeigten sich bewegt und verstört.
Die Bilder weinender, betender und singender Menschen, die den Brand beobachteten, legen nahe, dass Kirchengebäude auch jenseits von Liturgie und Religion für viele Menschen eine große Bedeutung haben. Warum ist das so? „Kirchengebäude, überhaupt Sakralbauten werden auch als öffentlicher Raum begriffen“, sagte der Theologe Jakob Deibl im Gespräch mit religion.ORF.at. Es handle sich bei ihnen um Gebäude, die nicht nur einer Gemeinschaft, einer Konfession alleine „gehören“, so der Experte.
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„Die meisten Kirchen sind ja den Großteil der Zeit nicht für liturgische oder sakrale Handlungen genutzt“, so Deibl. Sie stehen die meiste Zeit über auch für anderes zur Verfügung. Man könne sie als Orte der Ruhe aufsuchen oder wegen der dort befindlichen Kunstschätze, Malerei und Architektur. „Man kann sie aber auch wegen der Hitze der Stadt aufsuchen, als Schutz vor Regen oder als touristisch interessierter Mensch.“
Einmal nicht konsumieren müssen
Diese Verfügbarkeit ist für den Theologen Teil der Anziehungskraft von Kirchen: Sie seien „im Wesentlichen Orte, die nicht kommerzialisiert sind“. Er erkennt "eine gewisse Tendenz, dass öffentlicher Raum immer weiter zurückgedrängt wird oder kommerzialisiert wird. Zum Beispiel könne man sich an Bahnhöfen kaum noch länger aufhalten, ohne dass man etwas konsumiere - es gebe immer weniger Sitzgelegenheiten, die ein langes Verweilen ermöglichen. „Da bieten Kirchen im Normalfall einen kaum oder gar nicht kommerzialisierten Raum, in dem man sich länger aufhalten kann, ohne Konsumentin oder Konsument zu sein.“
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Das Interesse an sakralen Gebäuden ist da: Jährlich besuchen rund 300.000 Menschen die Lange Nacht der Kirchen. Dome, Kathedralen, Kirchen und Klöster sind Ziel von wahren Touristenströmen. Lange-Nacht-Programmkoordinator Johannes Pesl sieht als ein Motiv die Möglichkeit, sich in einer Kirche einmal „völlig unbefangen“ zu bewegen. Besonders in der Langen Nacht wird neben den verschiedenen Veranstaltungen auch der Zugang zu Details wie „Krypten, Sakristeien und anderen Bereichen, die normalerweise nicht zugänglich sind“ geboten - barrierefrei und mit Führung.
Veranstaltungshinweis
Lange Nacht der Kirchen am 24. Mai 2019 in allen österreichischen Diözesen
Pesl sieht im Gespräch mit religion.ORF.at die Veranstaltung als „breite Palette, wo sich Religion und Kultur mischen“. Historisch gesehen waren Kirchen Orte, in denen man Schutz vor Verfolgung suchen konnte. Das sei heute anders, lebe aber wohl im kollektiven Gedächtnis weiter. Vielen Menschen vertraute Elemente wie Altar, Taufbecken und so weiter fänden sich in allen Kirchen, ob katholisch oder evangelisch, mit einem hohen Wiedererkennungswert. Das Gefühl von Vertrautheit sei auch über Architektur, Lichteinfall und andere Gestaltungselemente verstärkt worden: Über die Epochen hinweg sei in verschiedener Form versucht worden, „in die Bildsprache der Kirche zu übersetzen, worum es geht“, so Pesl.
Die Arche in der Stadt
Für den Theologen Deibl ist ein wichtiges Symbol das der Kirche als Arche. Es gehe bis in die frühe Zeit des Christentums zurück, „als man begonnen hat, Kirchen zu bauen". Dieses Motiv - Kirchen als in der Stadt gelandete Archen, die eine feste Gestalt erhalten - zieht sich durch bis heute“, erklärte er. Dabei sieht auch er den Aspekt des „Aufgehobenseins“ als ganz entscheidend. Dazu gehöre die eigene Atmosphäre in einer Kirche: „Sobald man eine Kirche betritt, ist man in einer ganz anderen Klangsphäre. Es wird deutlich leiser, man tritt aus dem umgebenden Chaos heraus und befindet sich an einem Ort, der Klang und Stille wieder hörbar machen kann.“
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Der „Nimbus des Heiligen“, abgegrenzt vom Profanen, spielt für Kirchenexperten Pesl auch bei der Bestürzung über den Brand von Notre-Dame eine Rolle. Notre-Dame als „Identitätsort der Franzosen“ stehe für alle anderen Kirchen. Auch der Stephansdom sei gerade durch die teilweise Zerstörung im Krieg sehr stark zum Identifikationssymbol der Österreicherinnen und Österreicher geworden.
Brand zeigte Verletzlichkeit
Der Brand zeige „die Verletzlichkeit einer Gesellschaft in ihrem Inneren. Ein Gebäude, ein Symbol, das es seit Hunderten von Jahren gibt, erscheint plötzlich als bedroht, vor dem Untergang stehend, verletzt, und zeigt damit aber auch die Verletzlichkeit einer Gesellschaft“, so Deibl.
Theologe Jakob Deibl
Jakob Deibl ist Mitglied des Forschungszentrums Religion and Transformation in Contemporary Society an der Universität Wien und Herausgeber des Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society (JRAT)
„Es war ja interessant, dass nach dem Brand auf den Straßen die ‚Marseillaise‘ und das ‚Ave Maria‘ gemeinsam gesungen wurden - in einem Land der laicite ist das ein ganz starkes Zeichen, das zum Ausdruck bringt: Hier geht es um einen religiösen Ort, aber auch um einen Ort von ganz hoher öffentlicher Bedeutung, über das Religiöse noch hinausgehend“, sagte der Theologe.
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Kirchen als strukturierendes Element
Dazu kommt: Kirchen strukturieren immer noch den öffentlichen Raum, allein schon durch ihre Präsenz. „Sie zeigen auch eine oft jahrhundertelange Geschichte des Baus, der Pflege und konstanten Nutzung.“ Das trage zum Bewusstwerden der eigenen Geschichte bei, man sehe sich eingebunden in diese Geschichte, wenn man ein so altes Gebäude betritt.
Dennoch ist es ein Fakt, dass immer weniger Kirchen gebraucht werden, einige katholische Kirchen in Wien wurden verschenkt oder umgewidmet. Die Frage nach der Nachnutzung der Gebäude, die ja um viel Geld erhalten werden müssen, sei innerkirchlich sehr diskutiert, sagte Deibl. Vorzuziehen sei die Nutzung als Sakralraum - also die Kirche einer anderen Konfession zu übergeben, oder die Nutzung als öffentlicher Raum: als Bibliothek, Museumsraum oder zu gemeinnützigen Zwecken.
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„Wir sind die erste Epoche in der Geschichte, die sich diese Fragen überhaupt stellen muss. Früher wurden Kirchen oft Opfer von Bränden oder Kriegsbeschädigungen“, so Johannes Pesl von der Langen Nacht der Kirchen. Dann musste entschieden werden, „bauen wir’s wieder auf oder nicht. Heutzutage nimmt einem diese Entscheidung niemand mehr ab.“ Hier seien die Entscheidungsträger durchaus oft hilflos.
Freiheit brachte Dilemma
Auch dass es heute „erstmals wirklich möglich“ sei, sich „in Freiheit und ungezwungen“ für oder gegen die Religionsausübung zu entscheiden, bringe ein Dilemma. Denn natürlich brauche es „genug aktive Beiträge“, um Kirchen zu erhalten, sagte Pesl. Auch habe es Zeiten gegeben, in denen einfach zu viele Kirchen gebaut worden seien. „Ich kenne Kirchen in England, die als Einkaufszentren genutzt werden“, nannte er als Extrembeispiel für die Nachnutzung nicht mehr benutzter Kirchen.
Die meisten Menschen brauchten etwas, „das man sehen, anfassen oder betreten kann, da entstehen die Gefühle, da kann dieses Hineinversetzen ein bisschen stattfinden. Gesamtmenschlich betrachtet ist dieses Moment der Anschauung und der unmittelbaren Fühlung wichtig“, so Pesl. Kirchen als „Stein gewordene Geisteswelt“ also, eine Hilfe, die Gegenwart zu interpretieren.
Johanna Grillmayer, religion.ORF.at