Buch: Der Kardinal und die Ex-Ordensfrau
Das Buch mit dem Titel „Schuld und Verantwortung. Ein Gespräch über Macht und Missbrauch in der Kirche“ gibt diese Begegnung in Textform wieder. Das Thema des Gesprächs, das am 6. Februar 2019 im Bayerischen Rundfunk (BR) gesendet und danach auch im ORF ausgestrahlt wurde, war Missbrauch. Wagner, die bereits zwei Bücher über den mehrfachen sexuellen wie spirituellen Missbrauch, dessen Opfer sie war, geschrieben hat, und der Kardinal sahen einander zum ersten Mal. Zuvor hatten sie einige Male telefoniert.
Die Vorgeschichte: Doris Wagner (verheiratete Reisinger) gehörte von 2002 bis 2010 der Geistlichen Familie Das Werk an. Ihre Erfahrungen dort machte sie in den Büchern „Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“ (2016) und „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ (2019) publik. Sie beschreibt darin, wie sie als damals 24-Jährige von einem Priester der Gemeinschaft vergewaltigt wurde; Wagner wirft aber auch der Gemeinschaft Das Werk selbst vor, sie spirituell und seelisch missbraucht und misshandelt zu haben.
ORF/BR
Der Kardinal rief an
Doch aus der katholischen Kirche habe niemand mit ihr sprechen wollen, sagte die heute verheiratete Mutter zweier Kinder. Zu Wagners großer Überraschung erhielt sie Anfang des Jahres zunächst eine E-Mail und noch am selben Tag einen Anruf von Kardinal Schönborn. Er habe sich auch persönlich an den BR gewandt, schildert BR-Redakteur Stefan Meining im Vorwort von „Schuld und Verantwortung“.
Herder Verlag
Buchhinweis
Doris Wagner, Christoph Schönborn: Schuld und Verantwortung. Ein Gespräch über Macht und Missbrauch in der Kirche. Herder, 128 Seiten, 16,50 Euro.
So sei das Gespräch zustande gekommen - ein Dialog auf Augenhöhe zwischen dem Wiener Erzbischof und der ehemaligen Ordensfrau, ohne Moderator oder Moderatorin, der oder die Fragen stellte: „So etwas hat es noch nie zuvor gegeben“, so Meining. Der Kardinal als „einer der bedeutendsten Repräsentanten der katholischen Kirche“, so der BR-Beitrag, zähle zu den „wichtigsten Unterstützern des Reformpapstes Franziskus“. Wagner sieht sich als „Stellvertreterin für die vielen, die das gar nicht können“.
Knapp vierstündiges Gespräch
Was folgt, ist mehr als nur das Transkript des im BR gesendeten, knapp eine Dreiviertelstunde dauernden Beitrags - laut Verlag handelt es sich um das gesamte, knapp vier Stunden lange Gespräch. Schönborn erzählte seiner Gesprächspartnerin von seinen eigenen Erfahrungen mit dem Thema Missbrauch in der Kirche - er habe jedoch ihr Buch „drei Jahre lang auf dem Tisch liegen“ gehabt, bevor er es las. Es habe ihn sehr beeindruckt - in dem Buch gebe es „keine Spur von Hass oder von Aggressivität“.
Durch die Bücher und ihr Engagement habe Wagner „einen Dienst geleistet“. Auch das Gespräch sei ein solcher Dienst: „Schmerzhaft, aber heilsam.“ Wagner sagte, es sei ihr ein Anliegen, verständlich zu machen, „wie viel Geborgenheit Religion vermitteln“ könne. Sie habe als junge Ordensfrau großes Glück erlebt, aber auch „von Anfang an kleine Demütigungen“. So habe sie nicht lesen dürfen, sondern musste stattdessen Küchendienste machen.
„Das kann ich niemals irgendjemandem erzählen“
Als sie durch einen Priester vergewaltigt wurde, sei ihr erster Impuls gewesen: „Das kann ich niemals irgendjemandem erzählen, und das darf niemand jemals erfahren, denn sonst würden Menschen an der Kirche zweifeln.“
Schönborn erzählte seinerseits von der „Dynamik des Schweigens“, die er im Umgang mit Missbrauchsopfern erlebt habe, und auch vom „Missbrauch“ des Glaubens selbst, mit dem Täter Opfer zusätzlich einschüchtern würden, „speziell bei Priestern, die das religiös besetzen: ‚Du wirst von Gott bestraft, wenn du redest.‘“ Er sehe den Autoritarismus in der Kirche als beständige Gefahr. Die Ungleichheit von Männern und Frauen beschreibt er als „Uraltsünde in der Kirche“.
APA/AFP/Alessandra Tarantino
Bleibt die Dokumentation mehr oder weniger beim Thema Missbrauch und dem Umgang der Kirche damit, handelt die vollständige Niederschrift des Dialogs, die das Buch darstellt, über weite Strecken auch von anderem: Sowohl Wagner als auch Schönborn erzählten viel über ihren Werdegang in der Familie und in kirchlichen Institutionen. Die Theologin und Philosophin und der Kardinal legten einander auch ihre Gedanken über kirchliche Strukturen und Lehre sowie ihren eigenen persönlichen Glauben dar.
Angst um „kuschelige reine Männerwelt“
Auch über das Frauenpriestertum tauschten die beiden Argumente aus - hier blieb Schönborn vorsichtig, wenn er auch Wagner zum Teil recht gab. Sie sprach recht deutlich von der Angst kirchlicher Amtsträger, „ihre bisherige kuschelige reine Männerwelt aufzugeben“.
In einem Ausblick auf die Zukunft der katholischen Kirche gesteht Wagner, sie habe große Angst davor, dass sich die Kirche „noch mehr zu einer großen Sekte entwickelt“, in der „machtbesessene, ideologisch verbohrte Leute andere naive oder von ihnen abhängige Menschen ausbeuten und unterdrücken“. Es gebe aber immer noch „Menschen, die wieder ins Leben bringen wollen, was in der Kirche da und gut ist“. Schönborn dazu schlicht: „Und hoffen dürfen wir.“
Johanna Grillmayer, religion.ORF.at