Vorlesung: Missbrauch zeugt von „Gotteskrise“

Der Skandal des sexuellen Missbrauchs durch Priester zeugt nicht nur von einer „Kirchenkrise“, sondern reicht weitaus tiefer und kann als „Gotteskrise“ bezeichnet werden.

Das sagte der Wiener Theologe Wolfgang Treitler bei einem Vortrag am Montagabend an der Universität Wien. „Die Krise um Gott ist fundamental, ein kirchliches Erzeugnis durch den Missbrauch“, so Treitler. Der Missbrauch lenke schließlich den Blick nicht nur auf einzelne Missbrauchstäter, sondern auf eine Theologie, in der ein „billiges, dogmatisch aufgeblasenes und Gott und Mensch missbrauchendes Gerede von einem Gott, der die Geschichte der Satten und Zufriedenen zur Heilgeschichte gemacht hat“, aufleuchte. Eine solche Theologie, die ihre Wurzeln im Platonismus habe, sei letztlich unbiblisch und blasphemisch.

Treitler referierte im Rahmen der von ihm initiierten Ringvorlesung „Sexueller Missbrauch von Minderjährigen: Verbrechen und Verantwortung“. Im Wintersemester setzen sich jeden Montagabend hochkarätige Fachleute mit dem Skandal auseinander, der die katholische Kirche in den vergangenen Jahren erschütterte. Unter anderen waren dabei bereits der deutsche Jesuit Klaus Mertes, die Missbrauchsexpertin Mary Hallay-Witte und zuletzt Kardinal Christoph Schönborn zu Gast.

Fatale „platonisierende Denkweise“

Es habe sich in der Theologie eine „platonisierende Denkweise“ eingeschrieben, die sich in der fatalen Unterscheidung von körperlicher Existenz auf der einen Seite und hehrem geistlichen Leben auf der anderen Seite zeige. Dieser Dualismus habe schließlich dazu geführt, dass das vermeintlich hehre das vermeintlich unwürdige leibliche Leben unterwarf und damit auch Tür und Tor für den Missbrauch öffnete, führte Treitler weiter aus: „So wurde und wird katholisches Christentum zur systematischen Kollaboration mit Missbrauchsverbrechen, dogmatisch abgesichert.“

Kritik übte der Theologe in dem Zusammenhang auch an dem zuletzt unter dem Titel „Ja, es gibt Sünde in der Kirche“ publizierten Text von Benedikt XVI. über die Quellen sexuellen Missbrauchs. Der emeritierte Papst hatte darin unter anderem die 68er-Bewegung als Ursprung einer Krise ausgemacht, in deren Folge Missbrauch begünstigt wurde und sich ein Niedergang priesterlichen Lebens vollzog. Die Argumentation Benedikts sei letztlich ein „Missbrauch Gottes aufgrund kirchenpolitischer und dogmatischer Interessen“, so Treitler.

Kalkül im Umgang mit „Unterworfenen“

Die von Treitler attestierte „Gotteskrise“ sei indiziert worden durch die Peiniger selbst und durch deren Kalkül im Umgang mit den „Unterworfenen“. Indem sie sich in herausgehobener Position und in Vertretung Gottes Handelnde mit einem exklusiven Heilszugang empfänden und ihre Opfer durch geistliche Einschüchterung, durch Denunziation und Isolation gefügig machten, werde der sexuelle Missbrauch an Minderjährigen „theologisch gesehen Blasphemie im religiösen Erziehungs- und Betreuungsraum“.

Treitler: „Das Unfassliche dieses Gottesspiels liegt also im Erfolg, mit dem der Missbrauchstäter alle theologischen Bestände eines handelnden und rettenden Gottes liquidiert und damit, selbst auf lange Sicht, recht hat: Der Unterworfene blieb ohne Gott, und er blieb hilflos ausgeliefert.“

„Mentaler Missbrauch“ bereitet Boden

So gesehen gehöre es zu den „Perversionen christlicher Überlieferung, dass sie das tabuisierte Kindesopfer reaktiviert und darüber hinaus im Zwang zur Überbietung alles Jüdischen dieses zu einem göttlichen Vorgang der Erlösung macht: Der Untergang Jesu am Kreuz wird zum zentralen Motiv der Rettung“.

Wolle man also der durch den Missbrauchsskandal augenscheinlich gewordenen „Gotteskrise“ theologisch etwas entgegensetzen, brauche es theologische Basis-Arbeit und eine Erneuerung der dogmatischen Christologie: „Weg mit der Hybris von dogmatischen Sätzen, die der Bevormundung durch antike Denker in einer darüber längst hinausgekommenen, auch innerkirchlichen Bildungsgesellschaft sich ergeben“. Der „mentale Missbrauch“ bereite schließlich den Boden für den körperlichen Missbrauch.

Wieder stärker an jüdisches Erbe rückbinden

Zu einer solchen theologischen Kehrtwende bedürfe es jedoch eines starken „Willens und Mutes zur grundlegenden Negation“, so Treitler. Die Theologie müsse ihre Rede von Gott wieder stärker an das jüdische Erbe rückbinden und vor diesem Hintergrund auch reinigen. Es gehe um eine Theologie, die von „Gott im Nichts“ rede - also nicht affirmativ und selbstsicher, sondern tastend und „am Abgrund“: „Wer weiß, wer oder was Gott ist, weiß zu viel und weiß das Verkehrte, weil damit Identifikationen totalitären Charakters geschaffen werden.“ Es gebe Zeiten, „in denen die affirmative Gottesrede falsch ist. Solche Zeiten durchleben wir angesichts des realisierten Kalküls der Sexualverbrecher an Minderjährigen.“

Zu den weiteren Referenten in den kommenden Wochen zählen der Leiter des päpstlichen Kinderschutzzentrums an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, Hans Zollner, die Religionspädagogin Andrea Lehner-Hartmann oder der Rektor der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt/Main, Ansgar Wucherpfennig. Die öffentlichen Vorlesungen beginnen jeden Montag jeweils um 18.30 im Franz-König-Saal (Hörsaal 6) im Hauptgebäude der Universität Wien (Universitätsring 1).

religion.ORF.at/KAP

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