Expertin will Studie über Missbrauchsfälle in Österreich

Theologen, Missbrauchsexperten und -expertinnen fordern zur Bewältigung der kirchlichen Missbrauchskrise Reformen. Die Präventionsexpertin der Erzdiözese Wien, Martina Greiner-Lebenbauer, ist für eine systematische Erfassung von Fällen in Österreich.

Die Leiterin der Stabsstelle für Missbrauchs- und Gewaltprävention, Kinder- und Jugendschutz der Erzdiözese Wien wünscht sich für Österreich eine ähnliche Studie wie die viel diskutierte deutsche „MHG-Studie“ (Mannheim-Heidelberg-Gießen). Ziel der von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragten und 2018 präsentierten Studie war es, das Ausmaß sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige in Deutschland zwischen 1946 bis 2014 zu erfassen.

Insgesamt wurden dazu über 38.000 Personalakten aus den 27 deutschen Diözesen im besagten Zeitraum ausgewertet. Die Studie kam schließlich auf über 3.600 Opfer von sexuellem Missbrauch durch über 1.600 Täter. Eine solchermaßen systematische Erfassung der Fälle in Österreich würde auch wichtige Erkenntnisse für die Präventionsarbeit erbringen, zeigte sich Greiner-Lebenbauer überzeugt. Zudem brauche es auch weiterhin den Druck der Öffentlichkeit und der Medien: „Ohne den Druck könnte es schließlich sein, dass die Kirche wieder die Hände in den Schoß legt.“

Kandidaten sorgfältig auswählen

Greiner-Lebenbauer äußerte sich diesbezüglich in einer Diskussion zum Ende der 14-teiligen Ringvorlesung „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen“ am Montagabend an der Universität Wien. Gemeinsam mit dem Wiener Pastoraltheologen Johann Pock, dem Jesuiten Andreas Batlogg und dem Therapeuten Erich Lehner forderten sie Reformen, um Missbrauch in der Kirche zu verhindern. Sie sprachen sich etwa für die Schaffung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, Gewaltentrennung in der Kirche und einer Reform der Priesterausbildung sowie Ausbildung einer Präventionskultur in Gemeinden und Gemeinschaften aus.

Greiner-Lebenbauer regte etwa auch die Etablierung einer umfassenden Feedbackkultur auch in den Priesterseminaren an. Wünschenswert sei ein „360-Grad-Feedback“, in dem allen Rückmeldungen gleichermaßen nachgegangen wird, also auch jenen, die auf etwaige persönliche Schwächen der betreffenden Person schließen lassen oder auf Verhaltensauffälligkeiten. Häufig würden derzeit etwa Rückmeldungen aus Pfarren, in denen Kandidaten tätig sind, zu gering gewichtet oder nicht ernst genommen. „Wenn der Kandidat dann geweiht ist, ist es meist zu spät.“

Oft „taube Ohren“

Auch in religiösen Gemeinschaften und Bewegungen sieht Greiner-Lebenbauer noch kein vollständig ausgeprägtes Bewusstsein für die Missbrauchsthematik: Häufig würde sie mit dem Thema bei Gemeinschaften oder Bewegungen auf taube Ohren und den Hinweis „Das kommt bei uns nicht vor; wir vertrauen einander“ stoßen. „Ich stelle da teilweise ein großes Unverständnis und auch Naivität fest“, so Greiner-Lebenbauer.

Aus diesem Grund brauche es daher auch konkrete rechtliche Rahmenbedingungen und Erlässe, etwa bei der Regelung notwendiger Präventionsmaßnahmen bei überdiözesanen Aktivitäten, die nicht mehr nur in den Bereich eines Bischofs fallen.

Machtkonzentration als „Grundproblem“

Einig zeigten sich die Diskutanten und die Diskutantin darin, dass die kirchliche Machtkonzentration in einer Hand - also Legislative, Judikative und Exekutive in der Hand des jeweiligen Bischofs bzw. Papstes - ein Grundproblem darstelle, dem man nur durch strukturelle Reformen begegnen könne.

Gewaltenteilung und eine unabhängige Gerichtsbarkeit wären gerade angesichts der Missbrauchskrise wichtige Reformschritte, betonte etwa Dekan Pock, der aber zugleich einräumte: „Ich bin skeptisch, wie schnell so etwas gelingen kann, denn der Papst hat am Kirchenrecht leider kaum Interesse.“ Aufgrund der „weltkirchlichen Ungleichzeitigkeiten“ und der relativen „Zahnlosigkeit“ nationaler Bischofskonferenzen in rechtlichen Belangen könne eine Reform in dieser Dimension nur über kirchenrechtliche Änderungen laufen, so Pock.

Hirte und Richter - schwierige Kombination

Andreas Batlogg erinnerte in diesem Zusammenhang an eine Sequenz aus dem Gespräch zwischen Kardinal Christoph Schönborn und der ehemaligen Ordensfrau Doris Wagner. In dem aufsehenerregenden Dialog, der in einem Studio des Bayerischen Rundfunks aufgezeichnet wurde und der zuletzt als Buch erschienen ist, hatte Schönborn unter anderem eingeräumt, dass ihn die Tatsache „existenziell sehr belastet“, dass er als Bischof gleichermaßen Hirte und Richter sei.

„Das kann einem das Herz zerreißen“, so Schönborn in dem Gespräch. Gerade im Blick auf Missbrauch sei eine solche Gewaltenteilung notwendig und sinnvoll, „sonst kontrolliert sich das System selbst“, so Batlogg.

Gefahren „geschlossener Systeme“

Klaren Nachbesserungsbedarf orteten die Diskutierenden auch im Blick auf die Ausbildung von Priestern und pastoralen Mitarbeitern. In dem Zusammenhang wurde gerade das Leben im Priesterseminar als problematisch erachtet, da die Seminare die Gefahren „geschlossener Systeme“ mit sich brächten, so Pock. Diese reichten von der Entstehung von „Sonderwelten“ über Hierarchie-Abhängigkeiten bis zur Pflege eines „elitären Bewusstseins“ und schließlich eines „überhöhten Priesterbildes“. All dies berge die Gefahr des Missbrauchs in sich.

Der Therapeut Erich Lehner plädierte in dem Zusammenhang für eine „Entsakralisierung und Demokratisierung des Priesters“. Jede Form geschlossener Systeme - sei es ein Seminar, eine religiöse Gemeinschaft oder eine Familie - stehe in der Gefahr, den Missbrauch zu befördern, wenn darin überhöhte Rollenbilder und hierarchische Strukturen zusammenkommen.

religion.ORF.at/KAP

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