Zwischen Teufeln und Drachen: Juden im Stephansdom
„Man muss ja gar nicht weit schauen“, sagte die Historikerin Annemarie Fenzl der Religionsabteilung des ORF. Im Riesentor an der linken Seite der Frieszone über den Säulen „zwischen Drachen und Löwen und allen möglichen schreckerregenden Wesen findet sich ein Kopf eines Menschen mit einem spitzen Hut“.
Unweit davon, im Zentrum des Riesentores, befindet sich die Darstellung von Christus, dem Weltenrichter. Tatsächlich war der Platz vor dem Riesentor ein Ort, an dem Gericht - etwa über der Ketzerei Verdächtigte - gehalten wurde. Die Position des „Judenkopfes“ an diesem Ort war nicht zufällig.
Annemarie Fenzl
Spitzer Hut für Juden
Es gibt nur wenige „greifbare Zeugnisse“ des Antijudaismus im Stephansdom, sagte Fenzl. Doch der Dom selbst war in seiner Geschichte immer wieder stummer Zeuge von Judenfeindlichkeit. So auch im Jahr 1267, als im Dom das Wiener Provinzialkonzil abgehalten wurde. Diese Kirchenversammlung setzte sich neben Fragen der Disziplin des Klerus, des Kirchenvermögens und des Kirchenrechts auch in drei eigenen Canones (Paragrafen) mit dem Verhältnis von Christen und Juden auseinander.
So hieß es etwa in Can. 15: „Da der Übermut der Juden so groß geworden ist, dass, wie man sagt, durch sie bei gar vielen Christen die Reinheit der katholischen Heiligkeit vergiftet wird, so verordnen wir, ... dass die Juden, die sich in ihrer Kleidung von den Christen unterscheiden sollen, den gehörnten Hut, den sie nach der Gewohnheit dieser Länder zwar früher trugen, den sie aber in ihrer Verwegenheit abzulegen gewagt haben, wiederaufnehmen, damit sie von den Christen deutlich unterschieden werden.“ In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, warum der Kopf mit dem spitzen Hut am Riesentor als antijudaistisch einzuordnen ist.
Der ORF widmet sich in einem Schwerpunkt von 4. bis 13. April in TV, Radio und online dem Dom.
Mitschuld am Hass
Hier zeige sich klar, dass der Unfriede zwischen Christen und Juden nicht ursprünglich gegeben war, sondern von den Vertretern der Kirche ganz bewusst in die Gesellschaft von damals hineingetragen wurde, sagte Fenzl im Gespräch mit religion.ORF.at.
„Die Mitschuld der mittelalterlichen Kirche an dem Hass gegen die Juden steht heute außer Zweifel“, sagte die Historikerin, die sich eingehend mit dieser Thematik befasst hat. Wie Ressentiments gegen Juden, die als Christusmörder verunglimpft wurden, auch unterschwellig geschürt wurden, zeigt eine Ablassurkunde von 1339.
Steine auf Stephanus
Ein Jahr vor der feierlichen Einweihung des gotischen Neubaus der Chorschiffe von St. Stephan ging das Geld aus. Nun galt es, die Bevölkerung zu weiteren Spenden zu animieren. Der Pfarrer von St. Stephan beantragte beim Papst also eine Ablassurkunde.
Sie wurde am 5. November 1339 von zwei Erzbischöfen und zehn Bischöfen ausgestellt. Mit dieser Urkunde, die prominent an der Kirchentür angenagelt wurde, wurde die Bevölkerung informiert, dass derjenige, der zum Bau der Chorschiffe beitrage, einen Ablass von den Sündenstrafen erhalte.
Annemarie Fenzl
In der feierlichen Initiale (dem ersten Buchstaben) der Urkunde ist dargestellt, wie Männer mit spitzen Hüten schwere Steine auf den Kirchenpatron, den Heiligen Stephanus, werfen. Stephanus, der als der erste christliche Märtyrer gilt, trägt darum auch ein rotes Gewand, erzählte Fenzl im Gespräch mit religion.ORF.at. Rot als Farbe des Blutes. Man müsse sich fragen, was das damals wohl für einen Eindruck auf die Menschen gemacht habe, dass es die Juden sind, die auf „unseren Kirchenpatron“ Steine werfen, sagte Fenzl.
Umdenken nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil
Die Kehrtwende kam schließlich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) nach dem Holocaust, die sich auch in dem Konzilsdokument „Nostra aetate“ ausdrückt. Die römisch-katholische Kirche räumte mit dem Vorwurf auf, Juden seien Christusmörder und wandte sich klar gegen Antijudaismus. Nach dem Konzil wurde der katholisch-jüdische Dialog weiter intensiviert, erkennbar war das Bemühen um ein geschwisterliches Verhältnis.
Der Wiener Kardinal Franz König (1905-2004) setzte sich besonders für ein „besseres Verständnis von Christen und Juden“ ein, wie Fenzl erzählte. Und so ist auch der Stephansdom Zeuge der Umkehr in Theologie und Praxis der römisch-katholischen Kirche geworden: In der Barbarakapelle, unter dem unausgebauten Turm, werde die Kehrtwende deutlich sichtbar, sagte Fenzl.
Auschwitz-Gedenken im Stephansdom
In der 1474 geweihten, spätgotischen Barbarakapelle, die heute als Meditationsraum genützt wird, befindet sich ein spätgotisches Kruzifix, das aus der Pfarrkirche Schönkirchen in Niederösterreich stammt. In den Kreuzbalken wurde eine Kapsel mit Asche und Erde aus dem Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt. Dieses Reliquiar hatte Kardinal Macharski von Krakau anlässlich des Papstbesuches Johannes Paul II. im September 1983 dem Stephansdom übergeben.
Sendungshinweis
- Den „jüdischen Dom“ erkundet auch die TV-Sendung „Religionen der Welt“, Samstag, 11.4.2020, 16.55 Uhr, ORF2.
- Jüdischen und muslimischen Spuren im Dom widmet sich die Ö1-Sendung „Lebenskunst“, Sonntag, 12.04.2020, 7.05 Uhr.
Und im Jahr 1998 brachten Überlebende des Konzentrationslagers Mauthausen eine kleine Kapsel mit Erde aus Mauthausen. Auf der Vorderseite sind Nummern von Häftlingen eingeschlagen worden. Auch diese wurde in das Kruzifix eingesetzt. Damit erhielt das Gedenken an den Holocaust im Stephansdom, dem Bischofssitz und Wahrzeichen Wiens, einen Platz. Für Fenzl ein „wichtiger Schritt“.
Moses und Jesaja
In der Vergangenheit bot Fenzl auch die oft nachgefragte Führung „Christen und Juden im Stephansdom“ an, bei der sie mit Interessierten auf Spurensuche ging und diesen anhand der Kathedrale die wechselhafte Beziehung zwischen Christentum und Judentum näherbrachte.
Und freilich trifft, wer sich im Stephansdom umschaut, auch auf jüdische Spuren, die weder von Judenfeindlichkeit zeugen noch ihre schrecklichen Folgen bezeugen. So finden sich etwa Darstellungen von Moses, der die Israeliten aus der Sklaverei führte, sowie von dem Propheten Jesaja, der die Ankunft eines Messias ankündigte. Christinnen und Christen sehen in diesem Messias Jesus Christus.
Clara Akinyosoye, religion.ORF.at