Kirche während eines Gottesdiensts von der seitlichen Empore aus, Pfarrerin am Altar, Musiker an der Seite

Pfarre Leoben

„Über-Wunden“

Der Karfreitagsgottesdienst kam heuer live aus der Gustav-Adolf-Kirche in Leoben. Mit der Gemeinde feierten Pfarrerin Julia Moffat und Superintendent Hermann Miklas.

Geteiltes Leid ist halbes Leid. Hat die Solidarität des Gottessohnes mit den Verwundungen unseres Lebens etwas Heilsames an sich? Und inwieweit trägt sein Tod etwas zur Überwindung unseres Leids bei? Herausfordernde Fragen am provokantesten Freitag des Jahres, wissen Superintendet Miklas und Pfarrerin Moffat. Über Wunden auch nur zu sprechen ist schon schwierig genug, doch wie können Wunden überwunden werden?

Mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Evangelium: Matthäus 27

Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus mit sich in das Prätorium und sammelten die ganze Abteilung um ihn. Sie zogen ihn aus und legten ihm einen purpurroten Mantel um. Dann flochten sie einen Kranz aus Dornen. Den setzten sie ihm auf und gaben ihm einen Stock in die rechte Hand. Sie fielen vor ihm auf die Knie und verhöhnten ihn, indem sie riefen: „Heil dir, König der Juden!“ Und sie spuckten ihn an, nahmen ihm den Stock wieder weg und schlugen ihm damit auf den Kopf. Nachdem sie so ihren Spott mit ihm getrieben hatten, nahmen sie ihm den Mantel ab und zogen ihm seine eigenen Kleider wieder an. Dann führten sie Jesus hinaus, um ihn zu kreuzigen.

MUSIK

Johann Crüger:
Herr, stärke mich,
dein Leiden zu bedenken!

aus der Ukraine:
Kyrie

Gilbrecht Schäl:
Da ist der Schrei: Warum?

Bartholomäus Gesius:
Oh Welt, sieh hier dein Leben!

Thomas Wrenger:
Wer hat das getan?

Carl Heinrich Graun:
Der Tod Jesu

John Macleod Campbell Crum, Jürgen Henkys:
Korn, das in die Erde,
in den Tod versinkt

Franz Schubert: Heilig, heilig, heilig

Nicolaus Decius:
Oh Lamm Gottes unschuldig

Arvo Pärt:
Da pacem Domine

Jacques Berthier:
Kyrie, Kyrie eleison

Gerhard Martin:
Breite segnend deine Hände

Peteris Vasks: Dona nobis pacem
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Grazer Evangelische Kantorei
Leitung: Thomas Wrenger

Donawitzer Männerchor
Leitung: Christian Stany

Auf dem Weg trafen sie einen Mann aus Zyrene namens Simon. Ihn zwangen sie, Jesus das Kreuz zu tragen. So kamen sie an den Ort, der Golgota genannt wird, das heißt Schädelhöhe. Und sie gaben ihm Wein zu trinken, der mit Galle vermischt war, als er aber davon gekostet hatte, wollte er ihn nicht trinken. Nachdem sie ihn gekreuzigt hatten, warfen sie das Los und verteilten seine Kleider unter sich. Dann setzten sie sich nieder und bewachten ihn. Über seinem Kopf hatten sie eine Aufschrift angebracht, die seine Schuld angab: ‚Das ist Jesus, der König der Juden.‘ Zusammen mit ihm wurden zwei Räuber gekreuzigt, der eine rechts von ihm, der andere links. Die Leute, die vorbeikamen, verhöhnten ihn, schüttelten den Kopf und riefen: „Du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Wenn du Gottes Sohn bist, hilf dir selbst, und steig herab vom Kreuz!“ Auch die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Ältesten verhöhnten ihn und sagten: „Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen. Er ist doch der König von Israel! Er soll vom Kreuz herabsteigen, dann werden wir an ihn glauben. Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat, er hat doch gesagt: ‚Ich bin Gottes Sohn.‘“ Ebenso beschimpften ihn die beiden Räuber, die man zusammen mit ihm gekreuzigt hatte.

Von der sechsten bis zur neunten Stunde herrschte eine Finsternis im ganzen Land. Um die neunte Stunde rief Jesus laut: „Eli, Eli, lama asabtani?“, das heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: „Er ruft nach Elija.“ Sogleich lief einer von ihnen hin, tauchte einen Schwamm in Essig, steckte ihn auf einen Stock und gab Jesus zu trinken. Die anderen aber sagten: „Lass doch, wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihm hilft!“ Aber Jesus schrie noch einmal laut auf und verschied.

Aus einem Punkt einen Doppelpunkt machen

Predigt

Karfreitag ist der Tag, um über Wunden zu sprechen. Über die Wunden Jesu. Und über unsere eigenen Wunden. Wir haben am Beginn unseres Gottesdienstes heute einige – höchst unterschiedliche – Schicksale kennen gelernt: Querschnittslähmung, Transsexualität, Flucht… – Menschen, die sehr offen über die Wunden gesprochen haben, die das Leben ihnen zugefügt hat. Und wir haben vorhin das Karfreitags-Evangelium gehört: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ ruft auch Jesus schmerzverzerrt aus. Obwohl er mit dem Verstand genau weiß, dass er mit seinem Opfertod in Wirklichkeit einen göttlichen Auftrag erfüllt.

Doch in den Stunden, in denen wir körperlich oder seelisch verwundet sind, können wir nicht mehr logisch und vernünftig denken, da gehen einfach nur noch die Emotionen mit uns durch. Offenbar sogar mit Jesus. Das macht ihn, so dramatisch die Situation auch ist, irgendwie sympathisch. Da kommt er uns Menschen sehr nahe.

Ja, Jesus hat es wohl gekannt das Gefühl der Verlassenheit. Das Gefühl, allein zu sein. Niemanden mehr zu haben. Und die Angst davor, wie es weitergehen wird. Jesus war allein. Einer seiner Freunde hatte ihn verraten, der andere verleugnet. Seine engsten Vertrauten waren nicht mehr da. Die Menschen, mit denen er in den letzten Jahren unterwegs gewesen war, mit denen er gelacht und geweint hatte. Denen er wohl seine innersten Gedanken und Gefühle offenbart hatte. Keiner mehr da. Und er tritt seinen letzten Gang alleine an, obwohl viele Menschen dabei sind. Sie verspotten ihn. Jesus ist ganz allein. Und dann, als er am Kreuz hängt, bricht er schließlich zusammen: „Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen!“ Wenn Menschen sich von allen ihren Vertrauten verlassen fühlen, kann leicht das Gefühl der Gott-Verlassenheit dazu kommen.

Von Gott und der Welt verlassen. Ein Gefühl das die Luft zum Atmen nimmt. Ein Gefühl, das einen in ein tiefes Loch stürzen lässt. Es gibt Situationen, in denen sich Menschen von Gott und der Welt verlassen fühlen. So wie wir es vorhin gehört haben, dort wo sich Eltern scheiden lassen und Kinder vor den Trümmern einer Familie stehen. Dort wo Arbeitslosigkeit dem Leben den Sinn aber auch die Lebensgrundlage nimmt.

Wie kann man mit solchen Situationen fertig werden? Und kann der Glaube dabei eine Hilfe sein? Im Religionsunterricht lernt man ja oft, Jesus wäre für unsere Sünden gestorben. Und da steckt auf jeden Fall eine tiefe Wahrheit dahinter, denn auch Schuld kann entsetzlich drücken und mitunter sehr einsam machen. Nur können viele Menschen im täglichen Leben mit dieser Aussage nur wenig anfangen. Denn nicht alle Probleme lassen sich einfach auf Schuld und Sünde reduzieren. Für mindestens genauso bedeutsam halte ich es deshalb, dass Jesus Christus laut dem Zeugnis der Bibel eben auch andere Verletzungen (die Scham, die Einsamkeit und die verschiedensten Wunden unseres Lebens) auf sich genommen und mit uns geteilt hat.

Es heißt ja, geteiltes Leid ist halbes Leid. Und ich denke, das stimmt tatsächlich. Die Wunden im Leben Christi verbinden uns mit den Wunden in unserem eigenen Leben. Die Frage ist allerdings: Trägt der Tod Jesu nur etwas zum Ertragen unseres Leids bei oder hilft er auch beim Überwinden unseres Leids? Tatsächlich ist das Geheimnis von Golgatha ein ungewöhnliches. Der Karfreitag markiert einen absoluten Tiefpunkt: Tod, Ende, alles aus, auch die letzten Hoffnungen für immer zerschlagen.

Superintendent Hermann Miklas und die Leobner Pfarrerin Julia Moffat

Marco Uschmann/epd

Hermann Miklas und Julia Moffat

Doch der Ostersonntag wird aus diesem Punkt später doch noch einen Doppelpunkt machen. Und darin besteht das Überraschende. Auf Golgatha hat Gott gerade nicht das Allerschlimmste in letzter Minute doch noch verhindert, sozusagen im letzten Augenblick noch schnell die Reißleine gezogen und ein unerwartetes happy end inszeniert, sondern die Dinge haben ihren Lauf genommen, bis zur bitteren Neige. Nur – und das ist entscheidend – dass der vermeintliche Endpunkt eben doch kein absoluter Endpunkt war. Sondern dahinter ist auf einmal noch eine völlig neue Dimension sichtbar geworden, ist noch einmal eine ganz andere Wirklichkeit ins Spiel gekommen. Ich kenne Menschen, die haben mit allen Mitteln um das Leben ihres kranken Partners gekämpft und gebetet und haben den Lauf der Dinge doch nicht aufhalten können. Am Ende haben sie vor dem Tod kapitulieren müssen. Alle ihre Hoffnungen sind enttäuscht worden, der worst case ist doch eingetreten. Und mit dem Tod des Partners ist auch in ihnen selbst endgültig etwas zerbrochen. Nie hätten sie sich vorstellen können, dass hinter diesem Endpunkt aber noch einmal etwas ganz Anderes, etwas völlig Neues in ihrem Leben auf sie warten würde.

Doch genau das ist die Botschaft von Karfreitag: Jesus Christus hat den Tod nicht besiegt, er hat ihn vielmehr überwunden. Und er hat damit eine neue Dimension des Überwindens auch für uns eröffnet. Jesus Christus hat den Tod überwunden. Besonders spannend finde ich deine Gedanken „aus einem Punkt einen Doppelpunkt zu machen“. Wie kann in einem Leben aus einem Punkt ein Doppelpunkt werden? Wie können wir unsere Wunden überwinden? Geht das überhaupt? Diese Frage kann ich für Sie wohl nicht beantworten, das muss jede/r für sich selbst tun. Aber lassen Sie mich Ihnen erzählen, was ich beobachte.

Aus einem Punkt einen Doppelpunkt zu machen, gelingt Flüchtlingen, vielleicht dort, wo sie bei uns freundlich aufgenommen werden. Die von zu Hause nur das nackte Leben retten konnten, können hoffentlich überwinden, wenn sie merken: Hier darf ich in Frieden leben. Hier streckt mir jemand eine Hand in Freundschaft entgegen und ballt sie nicht zur Faust.

Die Wunden zu überwinden nach einer Scheidung, das gelingt vielleicht dort, wo man nachher lernt, respektvoll miteinander umzugehen. Eine Ehe kann und darf scheitern, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber ist es möglich, nachher weiterhin einen respektvollen Umgang miteinander zu finden? Damit alle ihren Weg im Leben weitergehen können und die Ruhe finden, die Wunden heilen zu lassen? Das ist sicher ein erstrebenswertes Ziel, aber auch eine große Herausforderung. Denn wenn aus einem Punkt ein Doppelpunkt wird, dann ist damit noch längst nicht alles in bester Ordnung. Selbst wenn wir unsere Abgründe überwunden haben, kann danach immer noch vieles schiefgehen. Dann kann es sein, dass jemand die neuen Chancen nicht nutzen kann, oder dass sich wieder ganz neue Widerstände aufbauen.

Vergessen wir nicht, mit Karfreitag und Ostern ist noch keine völlig neue Welt angebrochen. Weder im Großen, wo derzeit so vieles aus dem Ruder läuft, wie wir tagtäglich schmerzhaft erfahren müssen, noch im Kleinen, in unserem persönlichen Leben, in dem oft auch nicht immer alles rund ist, wie wir zur Genüge wissen. Und in vielen Fällen haben wir tatsächlich keine andere Wahl, als – mit Gottes Hilfe! – den Schmerz auszuhalten. Aber der Punkt der Gottverlassenheit, an dem selbst der letzte Hoffnungsschimmer gestorben zu sein scheint, hat sich in einen Doppelpunkt verwandelt. Und das ist schon viel.

Dass Jesus den Tod überwinden wird, gibt neue Hoffnung. Es gibt Hoffnung, dass auch wir unsere Wunden überwinden können, selbst wenn dann noch nicht alles wieder gut ist. Oft ist es noch ein langer Weg. Das Leben geht ja nach dem Doppelpunkt noch weiter. Das Leben ist nach einem schweren Unfall nicht vorbei, aber es gilt sich neu auszurichten, um aus dem Punkt einen Doppelpunkt zu machen. Mit der Flucht aus einem kriegsgebeutelten Land ist noch lange nichts überwunden. Aber in einem anderen Land neu anfangen zu dürfen, kann dem Leben neue Hoffnung geben. Genauso ist es bei Jesus Christus, mit dem Doppelpunkt der Auferstehung ist zwar schon etwas geschehen, aber irgendwie doch auch noch nicht. Die Welt hat sich verändert, aber irgendwie auch noch nicht.

Ja, Jesus Christus der „Friedefürst“ hat unter uns gelebt – aber Friede ist noch immer nicht. Ja, Jesus Christus hat alle Menschen auf eine Stufe gestellt – aber Gleichberechtigung herrscht noch immer nicht. Ja, Jesus Christus hat die Randgruppen der Gesellschaft in die Mitte geholt – aber viele grenzen sie noch immer aus. Das heißt, es hat sich etwas verändert, aber es ist noch nicht fertig.
Und es liegt auch ein Stück weit in unseren Händen, dass sich noch mehr verändert, nicht nur in unserem eigenen Leben. Und es liegt auch an uns, anderen Menschen zur Seite zu stehen. Damit sie aus dem Punkt ihres Lebens, an dem nichts mehr geht, wieder einen Doppelpunkt werden lassen können. Als Christen ist es unsere Aufgabe, zu helfen, wo Menschen versuchen, Wunden zu überwinden. Gott hat den Schlusspunkt in einen Doppelpunkt verwandelt, als Jesus Christus den Tod überwunden hat. Jetzt liegt es an uns, diesen Satz positiv weiterzuschreiben.

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